Neuartige Sensibilisierung für das Schöne

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Eleganz der Diagnostik? Attraktive Behandlung? Therapieziel "schönes Leben"? Die Medizin und Psychotherapie haben das heilsame Potenzial der Ästhetik entdeckt. An der Sigmund Freud Universität in Wien soll diese Forschung nun institutionalisiert werden.

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Eleganz der Diagnostik? Attraktive Behandlung? Therapieziel "schönes Leben"? Die Medizin und Psychotherapie haben das heilsame Potenzial der Ästhetik entdeckt. An der Sigmund Freud Universität in Wien soll diese Forschung nun institutionalisiert werden.

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Schon das Licht macht einen Unterschied. Sogar einen gewaltigen Unterschied, wenn man an einen Operationssaal denkt: Er muss hell ausgeleuchtet sein, um den Chirurgen präzise Schnitte zu ermöglichen. Kaltes, grellweißes Licht sticht ins Auge. Diese klinisch-sterile Atmosphäre auf das vertrauliche Gespräch in einem psychotherapeutischen Setting zu übertragen, wäre wohl ein Behandlungsfehler: Hier bedarf es einer dezenten Lichtgestaltung, damit die Seele sich langsam öffnen kann. Auch andere ästhetische Faktoren spielen eine Rolle für die Therapie: die Farben, der Raum, die Geräuschkulisse. Und gerade in der zwischenmenschlichen Begegnung kann das Potenzial des Schönen heilsam zutage treten. Die Wirkmacht dieser Faktoren aber ist bislang nur wenig bekannt.

Aktivierung ästhetischer Ressourcen

"Was uns nicht bewusst ist, das können wir auch nicht beeinflussen", sagt Michael Musalek, der ärztliche Direktor der Suchtklinik am Anton Proksch Institut in Wien-Kalksburg. Diese oft noch unbekannten Wirkfaktoren sichtbar zu machen und zu nutzen, ist eine der Hauptaufgaben einer ästhetisch orientierten Medizin. An der größten Suchtklinik Europas wurde in den letzten Jahren ein solcher Therapieansatz ausgearbeitet, der nun an einem neuen Institut der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Wien weiter beackert werden soll. Und dies nicht nur für Suchtpatienten: Denn die frischen Impulse einer therapeutisch umgemünzten Ästhetik erscheinen für den gesamten Gesundheitsbereich viel versprechend.

Welcher Atmosphäre bedarf es für eine bestimmte Behandlungssituation, wie lässt sich das therapeutische Setting angstfrei und gesundheitsfördernd gestalten? Was trägt zur Kultivierung von Patientenkontakten bei und wie steigert man die Attraktivität der Behandlung, sodass zum Beispiel weniger Patienten die Therapie vorzeitig abbrechen? Das sind nur einige der Fragen, die künftig am Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der SFU erforscht werden sollen. Vor allem aber geht es um die Sensibilisierung für die Erfahrung des Schönen und um das Eröffnen von ästhetischen Zukunftsperspektiven, insbesondere für jene, die daraus einen unmittelbaren gesundheitlichen Nutzen ziehen können.

Ein gesundes Leben ist ein wichtiges Therapieziel, aber nur ein "schönes Leben" sei nachhaltig prophylaktisch, heißt es aus der Sicht einer ästhetisch fundierten Suchttherapie. Gerade in der langfristigen Arbeit mit Alkohol-abhängigen Patienten zeigt sich, dass die gezielte Aktivierung ästhetischer Ressourcen die bewährten Therapiemaßnahmen gut ergänzen kann: Das bedeutet etwa klinisches Gärtnern, Patienten-Chöre und Musikgruppen, Kino-basierte Therapie, Kreativ-Workshops oder Kultur-Ausflüge. Am Anton Proksch Institut wurde dafür das Orpheus-Programm ins Leben gerufen. Dessen Wirksamkeit konnte mittlerweile in zwei Studien belegt werden, wie Psychologe Oliver Scheibenbogen beim Eröffnungssymposium des SFU-Instituts berichtete.

"Megathema" psychische Gesundheit

Der Titel dieses Programms verweist auf einen Sinn-trächtigen griechischen Mythos: Um nicht dem betörenden Gesang der Sirenen zu erliegen, ließ sich Odysseus an einen Schiffsmast binden. Orpheus hingegen fand ein probateres Mittel gegen diese Versuchung: Er spielte auf seiner Leier so bezaubernd, dass er damit den Gesang der Sirenen übertönte - und verblassen ließ. Analog dazu sollen Suchtpatienten zur Wiederentdeckung eines freud- und genussvollen Lebens angeleitet werden, um der hartnäckigen Versuchung durch das Suchtmittel zu widerstehen. Der Schlüssel ist die Begegnung mit dem Schönen. "Menschen darin zu unterstützen, ein 'schönes Leben' im Sinne der Selbstwirksamkeit führen zu können, ist meiner Ansicht nach die wichtigste, und auch nachhaltig lohnenswerteste Aufgabe der modernen Medizin", so Musalek.

Der Diskurs an der Schnittstelle von Ästhetik und Therapie wird bislang erst vereinzelt vorangetrieben. Durchaus denkbar, dass das neue SFU-Institut mit seinem interdisziplinären Zugang hier eine Vorreiterrolle einnehmen könnte (sofern überhaupt eine langfristige Finanzierung sichergestellt werden kann). Zudem ist psychische Gesundheit in den letzten Jahren zu einem "Megathema" geworden - man denke nur an die aktuelle Pensionsdebatte, in der die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Frühpensionierungen und Arbeitsausfällen eine große Rolle spielt.

Aber auch die neuen Umstände der Ästhetik im digitalen Zeitalter erscheinen beachtenswert: "Heute befinden wir uns insofern in einer Krise des Schönen, als das Schöne zu einem Objekt des Gefallens, des Like, zum Beliebigen und Behaglichen geglättet wird", diagnostiziert der Philosoph Byung-Chul Han in seinem jüngsten Buch "Die Errettung des Schönen" (2015). Fazit: Die Sorge um das wahrhaft Schöne ist heute gleichbedeutend mit der "Errettung des Verbindlichen".

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