Wenn Dinge sprechen könnten …

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Menschen bauen mit den Gegenständen ihres Alltags Beziehungen auf - selbst an einem Ort völliger Trostlosigkeit.

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges wurden rund 8.700 Gefangene des Konzentrationslagers Dachau von der SS in Richtung Süden getrieben. Der damals 14-jährige Friedl Kunstwald wurde Zeuge eines dieser "Todesmärsche". Beim Vorübergehen drückte der in etwa gleich alte litauische Jude Ismai Rosmarin dem erschütterten Beobachter sein Akkordeon in die Hand und bat um Brot. Kunstwald brachte ihm sogleich einen Laib Kartoffelbrot. Ein SS-Wachmann wurde auf den Jugendlichen aufmerksam, konnte ihn jedoch nicht fassen, weil ihm die Gefangenen einen Fluchtweg freigaben. Friedl Kunstwald bewahrte die Ziehharmonika jahrzehntelang auf, doch der einstige Besitzer kehrte nicht mehr zurück.

Unbekannte Schicksale

Das schäbige Musikinstrument ist derzeit in einer Ausstellung über "Menschen und Dinge im Konzentrationslager Dachau" im Museum für Volkskunde in Wien zu sehen. Es ist eine kleine, aber berührende Schau, die den Schrecken, aber auch den Alltag im ersten vom NS-Terrorregime eingerichteten Konzentrationslager greifbar macht. Mindestens 200.000 Menschen waren dort von 1933 bis zur Befreiung des Lagers im April 1945 interniert, darunter auch viele Österreicher, etwa die späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach, der Kabarettist Fritz Grünbaum und nicht zuletzt Furche-Gründer Friedrich Funder. Über 43.000 Menschen kamen in Dachau und seinen Außenlagern zu Tode.

Die Ausstellung handelt nicht von bekannten Persönlichkeiten, sondern von den Unbekannten und sie zeigt Relikte, die mit konkreten Schicksalen verbunden sind: eine Blechschüssel mit eingraviertem Schachbrett, eine Porzellanfigur, von der Lagerleitung zensierte Briefe. Es sind Gegenstände, die Geschichten erzählen, auch wenn die Ausstellungsmacher, eine Gruppe von engagierten Studenten des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, von "Beziehungs-Räumen" ausgehen und der Schau folglich den nichtssagenden Titel "Zeit. Raum. Beziehung" gegeben haben. Der verschwurbelte theoretische Überbau tut der Wirkung der Schau jedoch keinen Abbruch.

Wortlose Geschichten

Ein originales Häftlingsgewand mit dem typischen Erkennungszeichen ("Winkel") ist an sich schon ein bewegendes Zeitdokument; umso mehr, wenn man die dazugehörige Geschichte kennt: Es gehörte dem im KZ internierten Ukrainer Iwan Golowan, der 1998 nach über 40 Jahren wieder in das in eine Gedenkstätte umgewandelte Lager zurückkehrte - und danach den Anzug in eine Mülltonne warf. Sogar nicht mehr existierende Gegenstände können eine Geschichte erzählen: Bei seiner Ankunft in Dachau wurde dem Wiener Ernst Eisenmayer die Mundharmonika abgenommen, auf der er während des Transports ins Lager gespielt hatte. Bei seiner Entlassung schenkte er das Instrument jenem Häftling, der ihm seine persönlichen Gegenstände aushändigte: "So habe ich sie zweimal verloren. Aber das zweite Mal war ich sehr froh darüber."

Zeit. Raum. BEZIEHUNG

Menschen und Dinge im Konzentrationslager Dachau.

Museum für Volkskunde, Wien

www.volkskundemuseum.at

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