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Ein neuer Fall Dreyfus?

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Die jetzt sich entrollende Affäre der Generäle, die an Ausmaß und Bedeutung den bekannten Fall Dreyfus zu übertreffen scheint, hat die zu Beginn im Mittelpunkt stehenden Generäle Revers und Mast schnell zu Nebenfiguren gemacht. Und es fragt sich, ob selbst der zur Hauptrolle promovierte Roger P e y r e lange im Blickfeld bleiben wird. Nein, die Angelegenheit ist viel zu verwickelt, als daß es möglich wäre, die Verantwortungen auf zwei Generäle und einen Abenteurer zu verteilen.

Schon die Vorgeschichte des Falles ist seltsam: Anfangs 1949 unternahm der damalige Generalstabschef General Revers eine Inspektionsreise nach Indo-china. Nach seiner Rückkehr legte er seine Beobachtungen in einem Bericht nieder, der in einen militärischen und einen politischen Teil gegliedert war. In ersterem hatte General Revers die Stärke der kommunistischen Viet-Minh-Truppen hervorgehoben, jene der französischen Streitkräfte mit 120.000 Mann als ungenügend bezeichnet und auch auf gewisse moralische Mängel hingewiesen. Revers verlangte die Ersetzung des kommandierenden Generals Blaizot durch General Carpentier, die auch vollzogen wurde. Die in die zivilen Kompetenzen eingreifende Forderung des Generalstabschefs, den Hochkommisär in Indo-china Pignon durch General Mast zu ersetzen, wurde vom damaligen Kolonialminister Coste-Floret abgelehnt, an dessen Politik Revers gleichfalls Kritik geübt hatte.

Nun wurde am 18. September gelegentlich eines Streiks in Paris ein Indochinese verhaftet, in dessen Aktentasche sich eine Kopie des Berichts von General Revers fand. Er behauptete, sie von einem Manne namens Robert Peyre erhalten zu haben. Wie konnten aber vertrauliche Informationen in die Hände jener gelangen, vor denen gerade sie am besten verborgen sein sollten? Doch handelte es sich nur um den politischen Teil, militärische Geheimnisse waren nicht im Spiel. Und die „Zuständigen“ beschlossen die Untersuchung im stillen weiterzuführen und sich mit dem Rücktritt des General Revers zu begnügen.

Heute herrschen Zweifel darüber, ob die „Zuständigen“ richtig gehandelt haben. Jedenfalls Wird vermutet, daß, wenn auch manche unter ihnen diesen Beschluß gutgläubig gefaßt haben, andere wiederum beflissen waren, alles zu ver-haben. Jedenfalls wird vermutet, daß, der „Fall“ über den vermuteten Rahmen hinausging. Daß jener Teil des Revers-Berichtes dem No-Chi-Minh, dem Begründer der Rebellenrepublik Vietnam, dem Bedroher der Stellung Frankreichs im Fernen Osten, zugänglich wurde, daß Revers mit politischen Mitteln — und unter Übertretung seiner eigentlichen Funktionen — die Ernennung seines Freundes Mast zum Hochkommissär in Indochina erwirken wollte, das sind Vergehen, die man dadurch erledigt glaubte, daß der Generalstabschef möglichst unauffällig seines Postens enthoben und „mit anderen Aufgaben betraut“ wird. Als es sich jedoch herausstellte, daß General Revers durch die Vermittlung von Roger Peyre in politische Intrigen verwickelt war, nahm der Fall so bedenkliche Formen an, daß eine vollkommene, wenn auch schmerzliche Bereinigung sich überzeugend als notwendig erwies. Die sofort eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission soll Licht in dieses Dunkel schaffen.

Der Fall hat manche politische und parteipolitische Züge aufzuweisen. Peyre, der während der Besetzung Frankreichs zwei Herren diente und von Bidault in einer Parlamentsrede als „agent double gebrandmarkt wurde, scheint seit 1947 mit General Revers die besten Beziehungen gehabt zu haben. Aus den täglich veröffentlichten und in der französischen Presse besprochenen Dokumenten geht hervor, daß Revers diesen Mann als einen Ratgeber und manchmal als Vorgesetzten betrachtet hat. Er bittet ihn um Rat, sendet ihm Berichte und Memoranden zu und ersucht ihn, für ihn, Revers, zu intervenieren, sei es um eine Audienz bei einem Minister — wo er die Atmosphäre vorbereiten soll —, sei es, um den fünften Generalstern zu erhalten. Man bleibt fassungslos vor der Korrespondenz der beiden Männer stehen und kann keine Erklärung finden.

Es gibt dennoch eine Erklärung. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Revers seinen Posten aus politischen Gründen erhielt, denn man zog ihn anderen vor, die in St.-Cyr erzogen und eher der Rechten als der Linken verwandt waren. Während der Verhöre kommt man immer wieder auf den damaligen sozialistischen Kriegsminister Ramadier zu reden, dessen Vorgehen bei den Anweisungen an das Militärgericht und Zurückbehaltung des Dossiers nicht immer den Regeln entsprachen. Ein hoher Funktionär des sozialistischen Gewerkschaftsbundes Force Ouvriere, Henri Bouzanquet, war Mitverwalter der Gesellschaft, an der Roger Peyre, „der Mann des großen Geheimnisses“, beteiligt war. Und schließlich war Peyre Agent der SDECE, des Geheimdienstes, dem der ehemalige Abgeordnete Ribiere vorsteht. Es ist bekannt, daß die polizeiliche Untersuchung von der Spionageabwehr des Innenministeriums geführt wurde und dem gegenwärtig in Rio de Janeiro lebenden Peyre die SDECE bei seiner Abreise geholfen hatte.

In der gegenwärtigen Lage ist es auch unvermeidlich, daß ein „Fall“ wie dieser nicht zum Anlaß parteipolitischer Feldzüge wird. Es ist nicht ausgeschlossen, daß im Zusammenhang mit den Ergebnissen der schwebenden Untersuchung Parlamentswahlen naherücken.

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