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„Wir alle sind Schüler Vogelsangs“

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DAS LEBEN

Der Blick geht zurück! Karl Freiherr von Vogelsang wurde am 8. September 1818 in Liegnitz in Schlesien geboren. Seine Familie, seit der Reformation protestantisch, war schon 1150 in Mecklenburg ansässig. 1822 übernahm hier sein Vater das Familiengut Alt-Guthendorf bei Marlow. Ersten Unterricht erhielt Vogelsang in Lübeck. Das Gymnasium besuchte er in Halle an der Saale. Zu Bonn, Rostock und Berlin studierte er Jus. Hierauf stand er im Justizdienst in Berlin. 1848 nahm Vogelsang, von der Revolution angewidert, Abschied und widmete sich zu Hause der Wirtschaft und theologisch-politischen Studien. In die mecklenburgische Ständevertretung 1848 gewählt, erstrebte er zeitgemäße Reform. Das erregte den Widerwillen des großherzoglichen Absolutismus. Den Widerwillen der Standesgenossen erregte dann seine Konversion zum katholischen Glauben in Innsbruck nach Bekanntschaft mit W. E. von Ketteier, dem nachmaligen „Sozial“-Bischof von Mainz. Vogelsang, der“li%2 mit Berta, der Tochter des hessischen Staatsrates J. v. Linde, sich verehelichte, emigrierte nun 1854.

Vogelsang fand nach schriftstellerischer Tätigkeit in Köln und landwirtschaftlicher bei München seine zweite Heimat in Österreich 1864. Zunächst versuchte er sich als Guts- und Fabriksherr am Bisamberg bei Wien und dann publizistisch in Preßburg. Vogelsang war 55 Jahre alt, als er (1875) endgültig mit Frau und elf Kindern nach Wien übersiedelte und sein sozialreformerisches Lehramt als Chefredakteur im katholisch-konservativen Tagblatt „Das Vaterland“ und als Herausgeber der „Monatshefte für christliche Sozialreform“ antrat. Vogelsang starb am 8. November 1890 in Wien.

DAS WERK

Vogelsang erstellte 1875 sein Wiener Vierpunkteprogramm: katholisch, österreichisch, konservativ und — christlichsozial! Das beinhaltete: die Freiheit der Kirche, die Notwendigkeit des Donau-Völkerreiches, die föderative Ausgestaltung dieses und — seinen „c h r i s t-lichen; Sozialismus“ als Hauptaktion. Ebenda machte sich auch Vogelsang seinen Namen. Er bekämpfte neben und mit Karl Marx den Kapitalismus, die „Trennung von Arbeit und Kapital“; er erstrebte wie Marx die „Einheit“ beider Faktoren, diese aber — im Gegensatz zu Marx — nicht als eine „abstrakte“. Dachte doch Marx das Kapital in gesellschaftlicher Hand und erzwang dadurch die in den vollsozialisierten Staaten gegebene Schlußszene: Der Arbeiter hat weiterhin Arbeiterhände und „sein“ Kapital als Eigentum der Gesellschaft wird deshalb faktisch Eigentum der Klasse „seiner“ Funktionäre. Vogelsang hingegen bestand auf eine konkrete Einheit von Arbeit und Kapital. Er schrieb: „Die Lösung der Arbeiterfrage, die Gerechtigkeit gegen die Arbeiterklasse„ die Ausfolgung des Patrimoniums der Enterbten, kann nichts anderes sein als das Aufhören der Arbeiterklasse, ihre Absorption durch die Besitzerklasse!“

In denkwürdiger Weise forderte Vogelsang die „Wiederaufsaugung der Arbeiter durch eine korporativ organisierte Großindustrie“. Er dachte an „eine ganze Skala von Anteilsrechten des Arbeiters am gewonnenen Mehrwert“, mittels derer die Arbeiterschaft „zu den Unternehmern in eine Art Gesellschaftsverhältnis treten kann“. Sein Ziel war: „Ein Stand der an der Großindustrie Beteiligten.“ Seine Parole war: Assoziation gegen Monopol, Kooperation gegen Kollektiv, um bei aller Wirtschaftsplanung die Freiheit des einzelnen zu sichern.

Vogelsang wollte daher keine Verstaatlichung, sondern eine Vergenossenschaftung der Industrie! Er wollte den „Lohnarbeiter in einen Genossen“, in einen Miteigentümer und Mitarbeiter am Betrieb „metamorphisieren“. Das allein hieß nach Vogelsang „Entproletarisierung des Proletariats“! Gleichzeitig drang Vogelsang in Erkenntnis der Notwendigkeit der Klein- und Mittelbetriebe auf Erhaltung und Förderung dieser durch Gewerbe- und Bauernpolitik. Vor Verproletarisierung diese Mittelschichten, die Arbeit und Kapital vorbildlich vereinen, zu bewohnen, war sein zweites .Hauptanliegen. Infolge davon rief Vogelsang für diese doppelte Aufgabe alle gesellschaftlichen Kräfte auf: die einzelnen, die Gemeinden, die Kirche — und vor allem den Staat. Deswegen aber lehnten die rechts- und linksrheinischen Katholiken, die sogenannten „Liberalkatholiken“ im westdeutschen und französisch-belgischen Industriegebiet, Vogelsang als „Staatssozialisten“ ab. Sie Verneinten jegliche Staatsintervention. Die „Liberalkatholiken“ wollten soziale Caritas, private Sozialpolitik. Sie hatten Angst vor dem Staat, dessen Idee sie mit einem herabgekommenen Begriff davon, mit dem Gambetta- und Bismarck-Staat, verwechselten. Vogelsang hatte allerdings den katholischen Habsburger Franz Joseph vor Augen.

VOGELSANGS SCHULE

Vogelsang machte Schule. Was ab 1880 in Österreich katholisch-sozial tätig war, lernte zuvor hier. Vogelsangs Mitarbeiter waren: die Dominikaner A. M. Weiss und (Kardinal) Früh-wirth, die Grafen Blome, Belcredi, Kuefstein, Fürst Alois Liechtenstein, Karl Lueger, die Moralprofessoren Schindler, Scheicher, Schöpfer. s So blieb der Erfolg nicht aus. Vogelsangs „leidenschaftliche Anklage“ gegen das herrschende

Wirtschaftssystem hatte auch, schrieb selbst det Chefideologe des Austromarxismus, Otto Bauer, „zum erstenmal große Volksmassen in das politische Leben geführt, den volksfremden Liberalismus gestürzt und die großen sozialen

Probleme auf die Tagesordnung gestellt“. Es entstand die „christlichsoziale“ Bewegung und Partei Luegers. Ihr gab Vogelsang Namen und Rüstzeug. Ebenso groß war Vogelsangs Einfluß in Deutschland. Franz Hitze rief beim Sozialkurs des Katholischen Volksvereins in Bamberg 1893: „Wir alle sind Schüler Vogelsangs.“ Nach Fürst K. Löwenstein galt es damals, die Vogelsang-Schule in Deutschland „besser in Fluß zu bringen“.

Vogelsang ist auch der Erneuerer des sozialen Gedankens in der Kirche. Er wuchs zum Sozialreformer urbi et orbi! Standen doch die ersten „katholisch-sozialen Runden“ in Europa, zumeist 1882 bis 1884 gegründet, hiervon berühmt die Union de Fri-bourg, in der Obhut Vogelsangs und seiner Freunde. Hier wurde auch Rerum novarum vorbereitet, die am 15. Mai 1891 erschien. Sie bejahte Vogelsangs Forderung nach einem sozialen Staat und verurteilte damit den „Liberalkatholizismus“. Sie bestätigte aber nicht das Vogelsangsche Ideal einer zinslosen und ständischen Wirtschaft. Seelsorge und Vorsicht hält ja stets die Kirche von Experimenten ab.

Vogelsang, der ein halbes Jahr vor Rerum novarum starb, geriet ins Ausgedingl Seine Anhänger verliefen sich in die Tagespolitik auf dem Boden der kapitalistischen Tatsachen. Vogelsangs Zeitschrift wurde ins Ausland verlegt und Vogelsangs Debattierklub „Zur Goldenen Ente“ geschlossen. Und Rerum novarum, die im Sinne des Apostels Paulus zwischen den Arbeitnehmern und -gebern nur den Klassenfrieden verkündete und folglich der kapitalistischen Ordnung sich anpassen mußte und folglich kein umstürzendes Sozialideal im Sinne Vogelsangs aufstellen konnte, wurde mißverstanden. Die christlichsozialen Politiker glaubten gleichfalls auf ein solches Sozialideal verzichten zu müssen und betrieben nur „Sozialpolitik“, nicht „Sozialreform“. Nur noch wenige standen zu Vogelsang und erkannten in dessen Programm die notwendige Ergänzung der Rerum novarum! So Anton Orel (f 1959) vor und Joseph Eberle (f 1947), Ernst Karl Winter (f 1959) und Karl Lugmayer nach dem ersten Weltkrieg. Sie begründeten die „Wiener Richtungen“ mit ihren antikapitalistischen und ständestaatlichen Entwürfen. Sie verschafften sich über ihren ursprünglichen Gegner Ignaz Seipel (f 1932) Gehör in der Quadragesimo anno und errichteten mit Engelbert Dollfuß (f 1934) den „Quadragesimo-anno-Staat“ in Österreich. Heute wird der Aufruf Vogelsangs zur Zusammenarbeit aller Berufe in dem Kam-mersvstem der Zweiten Republik erfüllt! Auch ist der Partnerschaftsgedanke, das Sozialprogramm der demokratischen Welt, fraglos Vogelsangs Erbe.

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