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Ein Pionier der Sozialreform

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Die erste Hälfte unseres Jahrhunderts ist von tragischen Kämpfen zerrissen. Das gilt für die Welt, gilt für unser Land Oesterreich, gilt nicht zuletzt für den europäischen Katholizismus und die christliche Sozialrefonn. Im Streit der Zeit stand, jahrzehntelang, Anton Orel im Mittelpunkt großer Kontroversen. Leidenschaftliche Einseitigkeiten, ja Schiefheiten sind ihm von Feind und Freund vorgeworfen worden — nicht von ihnen soll im folgenden die Rede sein, wohl aber soll einer seiner prominentesten Schüler das Wort erhalten, um den greisen, einsamen Kämpfer dem unverdienten Vergessen und vielleicht auch der großen materiellen Netlage zu entreißen. Die „Furche“

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Die erste Hälfte unseres Jahrhunderts ist von tragischen Kämpfen zerrissen. Das gilt für die Welt, gilt für unser Land Oesterreich, gilt nicht zuletzt für den europäischen Katholizismus und die christliche Sozialrefonn. Im Streit der Zeit stand, jahrzehntelang, Anton Orel im Mittelpunkt großer Kontroversen. Leidenschaftliche Einseitigkeiten, ja Schiefheiten sind ihm von Feind und Freund vorgeworfen worden — nicht von ihnen soll im folgenden die Rede sein, wohl aber soll einer seiner prominentesten Schüler das Wort erhalten, um den greisen, einsamen Kämpfer dem unverdienten Vergessen und vielleicht auch der großen materiellen Netlage zu entreißen. Die „Furche“

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Einer umfassenden Geschichte des österreichischen Sozialkatholizismus wird es vorbehalten bleiben, die wegweisenden Verdienste eines Mannes zu würdigen, der in den letzten Jahren der Monarchie und in den ersten der Republik Oesterreich ein allseits Bekannter war, nunmehr für viele, besonders für die junge Generation, ein Unbekannter geworden ist. Es ist Anton Orel, der herausfordernde Redner und Schriftsteller, der harte Gewissensmensch, der nimmermüde Agitator für eine christlich-soziale Erneuerung unseres Vaterlandes!

Umjubelt von seinen Anhängern, verfolgt von seinen Gegnern, ging Anton Orel, ferne ausschweifenden Hoffnungen und kleinlichen Besorgnissen, den beschwerlichen Weg eines christlichen Sozialreformers und Sozialpolitikers. Sein erstes Verdienst schon in jungen Jahren war, den Namen Vogelsang, den Schöpfer der ersten Arbeitergesetzgebung in Oesterreich, den Anreger der christlichsozialen Bewegung Luegers, den Vorbereiter der Rerum novarum Leos XIII., in das Bewußtsein der christlichen Oeffentlichkeit wieder gehoben zu haben. In einer Flut von Schriften und Flugschriften entwickelte Orel das Vogelsang-Programm, das damals von den Kleingewerbetreibenden in der Politik verlacht und verachtet werden konnte, und das gottlob wieder aktuell geworden ist. Was „Miteigentum“ und „Mitverantwortung im Betrieb“ in der fortgeschrittenen Arbeiterpolitik von heute sich nennt, i s t Vogelsangs Idee. Was an Sozialreform und Sozialpolitik in der Ersten, erst recht in der Zweiten Republik verwirklicht worden ist oder im Stadium der Verwirklichung sich befindet, i s t Vogelsangs Testament. Rief doch ein Jahr vor seinem Tode Altmeister Vogelsang aus, daß inmitten des kommenden Versagens der marxistischen Kräfte, die nur ein abstraktes Eigentum an den Produktionsmitteln für die Arbeiter, dafür aber ein sehr konkretes für die Arbeiterfunktionäre schaffen und programmgemäß auch schaffen müssen, es die Aufgabe der Christen sein werde, die Arbeiter in die besitzenden Stände der Industrie zu „integrieren“, die Arbeiter in einen Besitzerstand zu „metamorphisieren“!

Das alles ist heute uns, aber nicht nur uns, den christlichen Sozialpolitikern und Sozialreformern, sondern darüber hinaus auch vielen Sozialisten geläufig geworden, die sehr genau wissen, daß nicht die Verstaatlichung, sondern die Vergenossenschaftung, die konkrete Teilnahme der Belegschaft im und am Betrieb endgültige Lösung der sozialen Frage im industriellen Raum bedeutet.

Orels zweites Verdienst war dann der organisatorische Einsatz in der christlichsozialen Bewegung. Diese drohte, besonders nach dem Tode Luegers, 1910, in einer „bürgerlichen Einheitsfront“ zu erstarren. Zunehmend geriet auch damals der „Christlichsoziale“, in Luegers jungen Jahren ein vorantreibendes Element gegen das Großbürgertum, in einen verhängnisvollen Gegensatz zur Arbeiterschaft, zum vierten Stand und seinen Menschenrechten. Er geriet es als Handwerksmeister und Geschäftsmann, als Bauer und Gewerbetreibender, als Hausbesitzer und Hausfrau — gegen den Gehilfen und Lehrling, gegen den Mieter und Dienstboten, gegen Knecht und Magd.

Gewiß wurde versucht, und in diesem Unternehmen besteht auch eines der unvergänglichen Verdienste unseres Volks- und Staatsmannes Leopold Kunschak, eine christlichsoziale Arbeiterbewegung aufzubauen. Seiner Tatkraft und Sauberkeit gelangen ortsweise beachtliche Erfolge. Der ersehnte Durchbruch gelang jedoch nicht. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter blieb „extra muros“, im Außenraum. So mußte mit neuen Methoden und vor allem bei der jüngeren Generation getrachtet werden, den „toten Punkt“ im sozialen Katholizismus zu überwinden. Dieses Wagnis geschah in der „Christlichen Arbeiterjugendbewegung“ Anton Orels!

Orel tat zunächst, was Prälat Josef C a r d i j n — und Cardijn ist sich dieses Vorbildes bewußt, wie er mir sagte — mit seinem Jungarbeiterwerk in Belgien heute in aller Welt unternimmt. Es ist die Gewinnung, die Sammlung und Führung der Jungarbeiter durch katholische Jungarbeiter! Nun unternahm gerade das Anton Orel schon längst in Wien!

Schon 1904! Und zehn Jahre später, im Jahre 1914, waren es bereits Tausende von Jungarbeitern, die in Alt-Oesterreich marschierten. Mit Vogelsang- und Lueger-Parolen! Ihr feuriges Bekenntnis, ihr „Bundeslied der Arbeit“, erfaßte weithin junges Menschentum, aktivistisches Christentum.

Und was die Hauptsache war: die Orel-Bewegung entwickelte erstmalig in der Geschichte des sozialen Katholizismus, und seitdem nicht mehr erreicht, einen gründlich geschulten katholischen Jungarbeitertypus, der klar fragen und antworten konnte und der unablässigen Mut zur Aktion bewies. Damit schlugen die „Orelianer“, wie sie genannt wurden, hart, sehr hart, die sozialistischen Jugendorganisationen, auch die nationalistischen. In Lied und Wort und Tat waren sie schlechthin allen überlegen. Da gab es keine zerrissenen Schläuche und Schlagwörter. Da gab es kein bleiches Rundherumreden. Da gab.es Geist, Gesinnung und Elan.

Trotzdem war es aber dieser ersten katholischen Arbeiterjugendbewegung in Oesterreich großteils versagt, das politische Schicksal ihrer Heimat entscheidend mitzubestimmen. Einerseits stand noch im Kirchenraum der „Bürger“ im Vordergrund und regimentierte die Haltung und Erlässe gegen diese Jungarbeiter. Anderseits schienen diese zu voreilig mit dem Vogelsang-Programm, zumal sie es mit „Rerum novarum“ gleichsetzten, ernst machen zu wollen. Kirchliche Missionäre und christliche Sozialisten wollten sie in einer Person obendrein noch sein. Wie unsagbar schwer hatten sich diese Gipfelstürmer von Beruf getan Mit diesem doppelten Gepäck! Mußten sie nicht einerseits als „Laienapostel“ mit dem wagemutigen Sozial- und Befreiungsprogramm, das sie gratwärts trieb, eine begreifliche Angst in der Kirche selbst hervorrufen, deren Soziallehre zuerst eine Gewalten erleidende Lehre ist? Mußten sie nicht anderseits als christliche Sozialisten, als Revolutionäre mit dem Credo im Herzen, Unbehagen bei der christlich-sozialen Partei erregen, die neben den kleinbürgerlichen Interessen auch schon großbürgerliche zu vertreten begann? Schon setzen sich manche „Eßmänner“ durch, die von oben herab redeten und von unten herauf handelten! Notwendig ergaben sich Unverständnisse, Mißverständnisse und — Stillstände allseits, dazu kam der Krieg 1914—1918, der die besten „Orelianer“ mähte.

Aber der Impuls, den Anton Orel gab, verebbte trotzdem nicht. Er setzte sich fort nach dem ersten Weltkrieg in dem sogenannten „Revisionismus“ der „Wiener Richtungen“. Das ist ein Inbegriff von zuerst in Wien geprägten und teilweise gegensätzlich entwickelten Soziallehren, die auf eine Wiederherstellung des Vogelsang-Programmes drangen. „Revision“, Revision der Sozialauffassungen der Katholiken, war das Kennwort. Gemeinsam war ihnen der genossenschaftliche Gedanke als Grundlage der sozialen und wirtschaftlichen Reform.

Die „Richtung Anton Orel“ war und blieb die Hauptrichtung aber, der Quell der übrigen. Sie entfaltete — nach Orels Abschied von der Tages- und Jungarbeiterpolitik — als Studienrunde katholischer Soziologen und Sozialpolitiker eine stoßkräftige literarische Wirksamkeit. Ihre Prinzipien legte sie nieder im „Katholisch-sozialen Manifest“ 1932. Es stützt sich auf die bedeutendsten Werke Anton Orels, vorweg auf sein „Handbuch christlicher Gesellschaftslehre“, das in Wien 1920, und auf seine „Oeconomia perennis“, die in Mainz 1930 erschien.

Gewiß, die Thesen der Orel-Richtung waren heftig umstritten. Fraglich schien vielen, auch Bischöfen, ob alles, was gelehrt wurde, aus dem Lehrgut der Kirche ableitbar sei. So das absolute Zinsverbot zum Beispiel, das Orel mit der Vogelsang-Schule als Angelpunkt der sozialen Reform propagierte. Fraglos aber, und das ist die geschichtliche Bedeutung dieser Richtung, war sie ein Stachel in der faulen Leiblichkeit verbürgerlichter Christenkreise.

Sich dessen heute, an seinem 75. Geburtstag, zu erinnern, ist Pflicht der jungen, mehr noch der älteren Generation. Vor uns ragt ein soziales, aber auch ein moralisches Lebenswerk, ein Obelisk an Dienstbereitschaft fürs Ganze.

Allen nützend, war und ist Anton Orel selbst dabei uneigennützig, ja franziskanisch-arm geblieben. Daß den ausgezeichneten Mann keine „Auszeichnung“ bis heute ziert, mag ihn angesichts des großen Haufens der oft unverdient und dienstpostenbedingt „Ausgezeichneten“ nicht kränken. Daß Anton Orel die einzige Anerkennung durch die Oeffentlichkeit, nämlich eine karge Rente, seiner Kerkerhaft durch Hitler verdankt, ist grotesk. Daß diese Rente nicht groß genug ist, um sein Obdach endgültig zu sichern, ist erschütternd. In diesen Wochen wird Anton Orel delogiert . .!

Das Schicksal des Proletariats, das er in vorderster Reihe mitwenden half, ist - sein Schicksal geworden.

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