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Geistige Strömungen in Österreich 1867 bis 1918

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Das Buch, ein Nachlaßwerk des 1946 verstorbenen Autors, trägt skizzenhaften Charakter. Gegenstand ist die Endphase Altösterreichs, der Virus seines Zerfalls: die gesellschaftlichen und geistigen Widersprüche, angefangen von Königgrätz bis zur Resignation Kaiser Karls. Daß hiebei kein Durchmesser durch die Dinge, sondern nur eine Tangente an sie geboten würde, trifft gewiß nicht zu. Das Buch hat Geist! Nur scheint es, wofür der Verfasser nichts kann, zu sehr auf der Flucht entstanden zu sein, die den „Sohn aus gutem Haus“ (wie er sich in seiner Selbstbiographie bezeichnet) von Schule zu Schule, von System zu System trieb; so vom „bene-diktinischen“ Schotten- zum „liberalen“ Wasa-gymnasium, vom „Facker-Kraus zu Kelsens „Rechtspositivismus“, vom bürgerlichen Komfort zu proletarischer Existenzlosigkeit und „Marxschen Vision“. Am Ende geriet der Verfasser in „Illegalität“ (1934 bis 1938) und ins „Exil“ (1939 bis 1945). Dieses Schicksal nun, eine nervöse Hast, ein Riemen lebens- und leidensgeschichtlicher Mobilität, drückt auch auf jede Zeile, jede Abhandlung. Was ihren Reiz noch erhöht, ist zum Teil die Lust zur Sachlichkeit des'19. Jahrhunderts, zum Teil die Glutflüssigkeit des dialektischen Materialismus, womit geschrieben wurde. Wohl läßt diese Art Geschichtsphilosophie die Gegenstände des Buches in einem vorgeschauten Licht erscheinen. Trotzdem wird der Historiker, der Soziologe das Ganze, seine Kapitel: Liberalismus, Katholizismus, Arbeiterbewegung, Sozialreform, Deutschnationalismus, Idealistische Philosophie, Pazifismus, dazu die oft sehr belangreichen Notizen über Plener, Friedjung, Moritz Benedikt, Carl Menger, Vogelsang, Lueger, Scheicher, Seipel, Kralik, Viktor Adler, Pernerstorfer, Otto Bauer, Schönerer, Ernst Mach, Franz Brentano, Sigmund Freud, Karl Kraus usf. nicht ohne Nutzen, zumindest nicht ohne Anregung, lesen. Erstaunlich ist bei allem die Einfühlung des Verfassers in fremde Geistigkeit. Das zeigt zum Beispiel das Kapitel „Katholizismus“. Gewiß ist es ergän-zungsbedürf'ig. Und nicht selten stößt durch die angestrebte und auch oft bewiesene Objektivität des Verfassers politischer Ellenbogen durch. Zum Beispiel wird die Kirche nur im „Rückschritt“ gesehen. Ahnungslos steht der Autor der religiösen Funktion in der Gesellschaft gegenüber. Nun, er ist „Atheist“. Schade, daß er nicht Atheist aller „Götter“ ist! Das hätte seine Ideologiekritik nach allen Seiten fruchtbar gemacht. Notwendig aber blieb sie dadurch einseitig. Das erweist sich zum Beispiel in seiner Kritik des Vogelsangschen „Ständestaales“, der — nach dem Verfasser — „in seiner Urfassung schon nichts anderes sein konnte als ein Mittel, die Massen des arbeitenden Volkes machtlos und rechtlos zu halten“. Wer jedoch den Vogelsangschen Entwurf kennt, weiß, daß er das Gegenteil davon war. Freilich läuft jeder Staat, der eine hierarchische Investitur pflegt, cäsarischer Gefahr. Dieser unterliegt also nicht nur der „Ständestaat“, sondern auch der „Einparteienstaat“, der „Einklassenstaat“, ebenso wie jeder andere Staat mit „Vorzeichen“. Die „Aristokratisierung“ ist schon leider einmal das soziologische Kompliment 'eder absoluten Weltanschauung als einer Vermittlertheologie und -metaphysik. Andererseits wieder spendet der Verfasser begründetes Lob Vogelsang und seiner Schule. Sehr richtig begrenzt er ihren Einfluß auf die Rerum novarum. Auch ist die Zeichnung Luegers nicht ohne Sympathie. Der Verfasser verteidigt — bei allem ideologischen und politischen Vorbehalt — gewissermaßen seinen Landsmann! Das macht auch das Buch, weil solche verständnisvolle Verteidigung wie ein goldener Faden gar manche Seiten durchwebt, zu einem echt österreichischen! Zwar ist Parteigeist, aber kein Parteihaß dabei. Einige Zustimmungen dürfte ebenfalls die Beantwortung der Frage finden: Warum die christlich-soziale Partei „die Grundlagen zu einer Einheitsfront aller Werktätigen“ nicht erstellen konnte, was „für die Gestaltung der Verhältnisse in Österreich von unabsehbarer Tragweite gewesen wäre“? Doch ist der Fingerzeig auf einen gewissen Feudal- und Finanzanschluß, der in der Partei „Vogelsangs Philosophie verschwinden“ und den „sozialrefor-merischen Elan sterben“ machte, wie gemeint wird, ungenügend. Gleidiwohl hätte von der dialektischen Denkweise des Verfassers her der Sachverhalt deutlicher eingesehen werden können. Ich meine folgendes: Zwei soziologische Typen bestimmten die christlichsoziale Partei. Da ist zunächst der Kleinbürger, der „Bodenständige“ in Stadt und Land, der „Mittelstand“, der — nach seinem Sieg über das „liberale“ Großbürgertum — als Hausbesitzer und Hausfrau, als Meister und Bauer, die Hauspartei, die Hausgehilfin, dann den Lehrling, den Gehilfen, eingeschlossen den „Arbeiter“, dann den Knecht, die Magd, klassen- und interessenmäßig exkludierte. Erfaßt aber wurde gleichzeitig dieses „Personal“ vom Sozialismus, der jedoch infolge seiner Bourgeoisphilosophie und der „christlichen“ Oberflächentradition des Kleinbürgertums aus prinzipiellen, oft aus propagandistischen Gründen antikirchlich, auch verdeckt antichristlich verfuhr und dadurch den zweiten soziologischen Typus in der christlich-sozialen Partei hervorreizte, den „politischen“ Klerus in Stadt und Lan'd (der zudem auf Grund der kirchlichen Aufgabe in der sozialen Frage die Bestimmung der Beruhigung der Klassengegensätze unter Anerkennung der vorhandenen Klassensituation besitzt). Eine solche Perspektive, die ich hier nur andeute, hätte meines Erachtens manches Urteil des Verfassers (und auch seiner Freunde) besser ausreifen lassen können! Wieder treffend ist die Darlegung über den „katholischen Literaturstreit“, die Kontroverse Kralik — Muth, „Hochland“ — „Gral“. Besonders überrascht die Kritik am „Liberal-

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