Die Anfänge der katholischen Soziallehre

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Am 3. September vor 200 Jahren wurde Karl von Vogelsang geboren. Er gilt als Begründer der christlichen Soziallehre in Österreich. Vieles an seinen Ideen war neu im katholischen Denken seiner Zeit, er wurde zum Wegbereiter einer neuen, christlich fundierten Sozialpolitik.

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Am 3. September vor 200 Jahren wurde Karl von Vogelsang geboren. Er gilt als Begründer der christlichen Soziallehre in Österreich. Vieles an seinen Ideen war neu im katholischen Denken seiner Zeit, er wurde zum Wegbereiter einer neuen, christlich fundierten Sozialpolitik.

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Der 1818 als Sohn eines preußischen Grundbesitzers geborene Vogelsang war unter dem Einfluss des späteren Bischofs Wilhelm Ketteler zum Katholizismus übergetreten. Als entschiedener Gegner der Politik Bismarcks wanderte er nach Österreich aus, wo er ab 1875 als Redakteur der katholisch-konservativen Zeitung Vaterland publizierte. 1878 gründete er die Österreichische Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft und Volkswirtschaft, die sich später in Monatsschrift für christliche Sozialreform umbenannte. 1883 veröffentlichte Vogelsang seine berühmt gewordene Untersuchung "Die materielle Lage des Arbeiterstandes in Österreich". Es war dies eine empirische Untersuchung der trostlosen Situation des Industrieproletariats, die beträchtliches Aufsehen hervorrief.

Vogelsang verstand sich als Gesellschaftsreformer. In vielem war er ein Kind seiner Zeit, etwa in seiner Forderung nach Erneuerung des thomistischen Zinsverbots und in seiner genossenschaftlich berufsständischen Sozialreform. Dabei vertrat Vogelsang einen radikalen Antikapitalismus. Viel wichtiger aber wurden seine konkreten sozialpolitischen Forderungen, die er nicht nur entwickelte, sondern auch publizistisch wirkungsvoll propagierte. Vogelsang avancierte so zum Impulsgeber für eine moderne Sozialpolitik, der die Lösung der sozialen Frage in Gang zu setzen verstand. Über seine Kontakte zur Union de Fribourg kann er auch als Wegbereiter der ersten großen Sozialenzyklika "Rerum novarum" gelten. Sie wurde kurz nach seinem Tod von Papst Leo XIII. im Frühjahr 1891 promulgiert.

Widerspruch zur liberalen Auffassung

Als pragmatischer Sozialpolitiker ging Vogelsang in seinen Forderungen viel weiter als viele andere katholische Denker seiner Zeit. Diese sahen die Arbeiterfrage als Aufgabe einer christlichen Caritas. Vogelsang hingegen war klar, dass es hier nicht bloß um eine Aufgabe freiwilliger christlicher Nächstenliebe von oben nach unten ging, sondern um soziale Gerechtigkeit an sich. Diese stünde der in Industrie und Landwirtschaft tätigen Arbeiterschaft zu, sie hätte einen Anspruch auf soziale Sicherheit. Dieser Anspruch, davon war er überzeugt, konnte und sollte mit Hilfe des Staates durchgesetzt werden.

Ausdrücklich teilte Vogelsang dem Staat das Recht, ja die Pflicht zur Intervention in sozialen Angelegenheiten zu. Damit stand er auch im klaren Widerspruch zur damals vorherrschenden klassischen liberalen Auffassung, wonach der Staat alle wirtschaftlichen und sozialen Fragen dem freien Marktgeschehen überlassen sollte.

Als Konservativer erwartete sich Vogelsang eine Lösung der sozialen Frage aber nicht von einem Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, wie es die marxistischen Theoretiker taten, sondern von schrittweisen Reformen. Und als in Österreich nach dem Ende der kurzen Ära liberaler Regierungen 1879 der konservative Ministerpräsident Eduard Graf Taaffe seine mehr als ein Jahrzehnt amtierende Regierung des sogenannten "Eisernen Ringes" bildete, bot sich für Vogelsang ein politisches Einfallstor, durch das er zahlreichen seiner Vorschläge zur Umsetzung verhelfen konnte. Denn über seine im Abgeordnetenhaus vertretenen Mitstreiter Prinz Alois Liechtenstein und Graf Egbert Belcredi sowie den Grafen Gustav Blome im Herrnhaus verfügte er über eine pressure group innerhalb der Partei des Ministerpräsidenten.

Mit dieser konnte er, getragen von der publizistischen Kraft der von ihm herausgegebenen Zeitschriften, erfolgreich für Meilensteine auf dem Weg zum Sozialstaat lobbyieren. Genannt seien hier drei ganz wichtige Arbeitsschutzgesetze: das Gesetz betreffend die Gewerbeinspektorate aus dem Jahr 1883, die Bergbaugesetznovelle aus dem Jahr 1884, in dem für Bergarbeiter bereits Normalarbeitszeiten festgeschrieben wurden, sowie die in der 2. Gewerbeordnungsnovelle 1885 enthaltene Einführung des Elfstunden-Normalarbeitstages (sechs Tage die Woche). Diese nach dem Schweizer Vorbild erfolgte Neuregelung war eine jahrelange publizistische Hauptforderung Vogelsangs gewesen und ganz unmittelbar seinem Einfluss zu verdanken. Die Einführung der verpflichtenden Sonntagsruhe, das Verbot der Kinderarbeit bis 14 Jahre sowie das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Kinder überhaupt -das alles und noch mehr ließe sich anführen, etwa die Einführung von Unfall-und Krankenversicherung für Arbeiter und die obligatorische Altersversicherung für Bergarbeiter. Diese Gesetze galten teils als europaweite Vorbilder und bilden bis heute die Grundlage der österreichischen Sozialgesetzgebung.

Vordenker christlichsozialer Programmatik

Zu dieser Einflussnahme auf die Sozialpolitik der Ära Taaffe kommt noch ein zweiter, in die Zukunft weisender Aspekt des politisch-publizistischen Wirkens Karl von Vogelsangs. In der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre begann sich schrittweise aus verschiedenen, teils heterogenen Gruppierungen jene politische Gruppierung zu formieren, die sich als Christlichsoziale Partei konstituieren sollte. An ihrem Beginn stand der ursprünglich aus dem liberalen Lager kommende Karl Lueger.

Nach der 1882 erfolgten Erweiterung des Wahlrechts um die sogenannten "Fünf-Gulden Männer" waren es nicht mehr nur aristokratische Honoratioren, die sich engagierten. Vielmehr entstand rund um Lueger eine sich aus Kleinbürgern, Handwerkern, Beamten, Bauern und Besitzenden formierende Massenbewegung. Was der Partei anfangs noch fehlte, war ein politisches Programm, ein geistig-gesellschaftlicher Überbau. Hier kam abermals Karl von Vogelsang ins Spiel, der in seiner letzten Lebensphase dem in Entstehung begriffenen Neuen seinen geistigen Prägestempel aufdrückte. Denn über eine neue, unter seinem Einfluss stehende sozialpolitische Vereinigung kam er in Kontakt mit Karl Lueger. Führende Köpfe seiner Bewegung trafen sich mit Vogelsang regelmäßig im Gasthof "Goldene Ente" in der Riemergasse. Sie erkannten rasch in Vogelsangs Programm die ersehnte inhaltliche Klammer für die in Entstehung befindliche Partei. Nach dem plötzlichen Unfalltod Karl von Vogelsangs war es dann der Wiener Moraltheologe Franz Martin Schindler, der, das Werk Vogelsangs weiterentwickelnd, zu dessen Nachfolger als geistiger Vater der frühen Christlichsozialen Partei wurde.

Die Entstehung moderner demokratischer Massenparteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verlief Hand in Hand mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus als einem Phänomen zur Mobilisierung der Massen. Es war das ein Charakteristikum der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die Politik. Dieser Umstand ist schmerzvoll und ruft heute Bedauern und Scham hervor. Auch Karl von Vogelsang blieb von antisemitischem Gedankengut nicht unbeeinflusst; sein Antikapitalismus trägt in einigen Beiträgen aus seiner Feder antisemitische Züge, auch wenn manch Widersprüchliches in seinen diesbezüglichen Äußerungen zu finden ist. Genauso wie das heute nicht unerwähnt bleiben soll und darf, kann aber festgehalten werden, dass es nicht einen zentralen Aspekt von Vogelsangs politischer Botschaft oder gar sein Vermächtnis darstellt.

"Ein echter katholischer Edelmann"

Apropos Vermächtnis: Selbst Otto Bauer, der große Theoretiker des Austromarxismus, räumte anerkennend ein, dass es Vogelsang verstand, durch seine leidenschaftliche Anklage der sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit große Volksmassen an das politische Leben heranzuführen und die großen sozialen Fragen auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Der mährische Aristokrat Egbert Belcredi, der, wie bereits erwähnt, zu den großen Förderern und Unterstützern Vogelsangs zählte, schrieb 1888 in seinem Tagebuch, Vogelsang sei "ein Mann von fester und erprobter katholischer und konservativer Gesinnung, ausgebreitetem Wissen und universeller Bildung. Er besitzt zudem eine seltene Arbeitskraft und ein Agitationstalent, welches ihm unschätzbare Beziehungen und Anknüpfungen zu Gebote stellt [ ]." Und als Belcredi im November 1890 in Brünn die Nachricht vom Tod Vogelsangs erreichte, vermerkte er: "Ein echter katholischer Edelmann von reinem Geist und Wissen, einem weiten umfassenden Blick, einer selten gewandten Feder, ein hervorragender Führer im Kampfe um eine christliche Sozialreform."

| Der Autor ist Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich |

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