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Der Vormarsch des Liberalismus
Dieser Beitrag zur Geistes- und Kulturgeschichte der Monarchie, eine Fortsetzung des vor einem Jahr erschienenen Bandes „Romantizismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz“, enthält in einem besonders wichtigen Teil eine um die jüngsten Forschungsergebnisse bereicherte Zusammenfassung früherer Veröffentlichungen („Geisteskampf im Sudetenraum“, „Das religiöse Ringen zweier Völker“, „Frühaufklärung“, „Der Joseflnismus und seine Geschichte“). Die Religionsphilosophie des Verfassers steht im Zeichen Bernard Bolzanos, dem er ein eigenes Werk gewidmet hat.
Dieser Beitrag zur Geistes- und Kulturgeschichte der Monarchie, eine Fortsetzung des vor einem Jahr erschienenen Bandes „Romantizismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz“, enthält in einem besonders wichtigen Teil eine um die jüngsten Forschungsergebnisse bereicherte Zusammenfassung früherer Veröffentlichungen („Geisteskampf im Sudetenraum“, „Das religiöse Ringen zweier Völker“, „Frühaufklärung“, „Der Joseflnismus und seine Geschichte“). Die Religionsphilosophie des Verfassers steht im Zeichen Bernard Bolzanos, dem er ein eigenes Werk gewidmet hat.
Eduard Winter, ein Sudetendeut- scher, in Grottau, nahe der sächsischen Grenze geboren, zuletzt, bis zu seiner Emeritierung Professor an der Humboldt-Universität Berlin, sieht die beiden, einst im gemeinsamen Heimatland lebenden Völker auf der gleichen Höhe der Kultur stehend, wobei er die Aufmerksamkeit besonders auf die Leistungen auf dem Gebiete der Philosophie lenkt. Winter ist der Historiker des katholischen Liberalismus, eines Vorläufers der gegenwärtigen Bewegung, welche den Anschluß der Kirche an den Sozialismus betreibt Eine der bedeutsamsten Erscheinungen der sich vor unseren Augen vollziehenden, die Welt erfassenden, die Umwertung und Entwertung vieler Werte bewirkenden Revolution ist die katholische Reformbewegung, welche wenigstens nach Ansicht des Rezensenten und wohl nicht nach der des Verfassers die Kirche von Grund aus bedroht.
Durch das Zweite Vatikanische Konzil sind viele Forderungen des katholischen Liberalismus des vorigen Jahrhunderts aktuell geworden. Den Forschungen Winters verdanken wir tiefen Einblick in diese Bewegung, welche für die österreichische Geschichte der dem Sturmjahr folgenden Jahrzehnte von großer Bedeutung war. Selbst das Konkordat von 185S konnte den Vormarsch des liberalen Geistes nicht aufhalten. Winter zitiert den gefeierten Prediger und Verfasser vieler Erbauungsschriften, den Stiefsohn Friedrich Schlegels, Johann Veith, der ' auf einen interessanten Beweggrund für den Kaiser hinweist, den Vertrag mit Rom zu schließen. Der Krimkrieg sei für Franz Joseph der Ansporn gewesen. Die Monarchie sollte als anerkannte römisch-katholische Schutz- maeht auf dem Balkan auftreten und dem Zaren, dem Schutzherrn der orthodoxen Kirche, begegnen. Die Suprematie des Heiligen Stuhles über Österreich würde dadurch auf den ganzen Balkan ausgedehnt werden und, wie es in einem Memorandum an das Ministerium des Äußeren von
1855 heißt, zur Handhabe für die österreichische Herrschaft dienen. Dieses Ziel zu bekämpfen, war der Zweck der von dem Slowaken Stur (Das Slawentum und die Zukunft Europas) betriebenen Propaganda für die orthodoxe Kirche.
So unglücklich und verfehlt die äußere Politik des jungen Kaisers im Jahrzehnt des Neoabsolutismus war, so glücklich und erfolgreich war die Staatsverwaltung, die durch keine gesetzgebende Körperschaft behindert, für den Staat das tun durfte, was für ihn das beste war. Das Wesen des Neoabsolutismus lag im Liberalismus, der sich in nie wieder gesehenem Maße in der Wirtschaft, in der Justiz und im Unterrichtswesen offenbarte. Diese Jahre brachten die Durchführung einer gerechten Grundentlastung, das Fallen der Zollschranken gegen Ungarn, die Herabsetzung der Zölle, die Gründung der Creditanstalt als erste österreichische Großbank, den Verkauf der Staatsbahnen zur Gesundung der Währung und die die Wirtschaftsfreiheit gewährende Gewerbeordnung von 1859.
Der wirtschaftliche Liberalismus förderte den Wohlstand des jetzt erst aufstrebenden Bürgertums, dessen liberale Geisteshaltung der Epoche den Stempel aufdrückte. Der katholische und konservative Graf Leo Thun — ein Liberaler hätte die liberale Reform nicht durchführen können — führte mit Exner, Helfert und dem Protestanten Bonitz die Unterrichtsreform durch, ein Meisterwerk, dessen Zerstörung zu den betrüblichsten Ercheinungen unserer Zeit gehört.
Die damals verwirklichte Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre brachte die Universitäten auf allen Gebieten auf eine vorher nie erreichte Höhe. Winter liefert in seiner Übersicht über die gemeinsame Grundhaltung der führenden Geister eine Geschichte des Denkens, führt uns in das geistige Leben des Frühliberalismus, das reicher und mannigfacher war, als bisher angenommen wurde. Prag, geschützt durch den bodenständigen, föderalistisch gesinnten Adel, wurde zum Hochsitz der Philosophie in Österreich. Es ist bezeichnend, daß in der Hauptstadt Böhmens 1868 der erste internationale Philosophenkongreß stattfand.
In einem eigenen Kapitel behandelt Winter die nationale Frage, hebt die Verbindung des Zentralismus mit dem Föderalismus hervor, charakterisiert die tschechischen Parteien, Nationalkonservative, Nationalliberale und Nationaldemokraten. Er zeigt, daß es im Streit um die Königinhofer Handschrift nicht um die Frage ihrer Echtheit, sondern um den Erweis der kulturellen Ebenbürtigkeit ging und weist darauf hin, daß der Ruf „Das tschechische Kind gehört in die tschechische Schule“ wirkungslos blieb, weil die Eltern, das Fortkommen ihrer Kinder im
Auge, sie in die deutsche Schule schickten.
Das Wesen des Sprachenstreits lag darin, daß der Kampf ja gar nicht um Gleichberechtigung der Nationalitäten ging, die längst gewährt war, sondern um Bevorzugung. Ungehört verhallten die Worte des Wiener Abgeordneten in Frankfurt Karl von Kleyle: „Österreichs Völker sollen sich nicht auf den engbegrenzten Standpunkt der Sprache, sondern auf den einer konstanten Großmacht stellen, sonst Zerfall in eine buntscheckige Harlekinsjacke von kleinen Ländchen“, welche für die Mächte im Osten und Süden eine willkommene Beute wären.
Winter zeigt uns dank seinem umfassenden Aktenstudium, worüber das Quellenverzeichnis Auskunft gibt, ein lebenswahres Bild der geistigen Haltung der frühliberalen Epoche.
REVOLUTION, NEOABSOLVTIS- MUS VND LIBERALISMUS in der Donaumonarchie. Von Eduard Winter. Europa Vertag, Wien. 246 Seiten.
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