RIO Gewalt - © Foto: picturedesk.com / Ian Cheibub / Reuters

Eine App gegen Gewalt

19451960198020002020

Rio de Janeiro ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Während Präsident Jair Bolsonaro mit Waffen antworten lässt, setzt ein Ingenieur auf eine Software und die Mithilfe der Bürger. Die Lösung?

19451960198020002020

Rio de Janeiro ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Während Präsident Jair Bolsonaro mit Waffen antworten lässt, setzt ein Ingenieur auf eine Software und die Mithilfe der Bürger. Die Lösung?

Werbung
Werbung
Werbung

Robson dos Santos, Uber-Fahrer, klippt sein Handy an das Armaturenbrett und öffnet die App „OTT“, dessen Symbol: Megaphon und Gewehrkugel. Santos spricht ins Mikro: „Guten Abend OTT, Robson hier, irgendein Vorkommnis?“ Santos startet den Motor, blickt angespannt durch die Frontscheibe, bis es aus dem Lautsprecher knarrt: „Negativo, negativo“.

Auf dem Weg durch das nächtliche Rio de Janeiro kommen wir uns vor wie im Kriegsgebiet. Immer wieder krächzt es: „Achtung, OTT informiert, Schusswechsel.“ Santos passt seine Navigation an, umfährt gemeldete Orte. „Ich nutze OTT zur Sicherheit“, sagt er. Sein Gefühl der Unsicherheit ist nicht unbegründet: Rio de Janeiro ist eine der gewalttätigsten Städte der Welt. Vergangenes Jahr starben hier 6695 Menschen durch Gewalt, 632 Menschen wurden 2017 von Querschlägern getroffen, 67 davon tödlich, darunter eine Zweijährige, eine Zehnjährige und ein Embryo, der durch den Bauch der Mutter erschossen wurde.

Nummer eins bei Tötungsdelikten

In absoluten Zahlen ist Brasilien Nummer eins bei Tötungsdelikten weltweit. Diese Kriegsstimmung macht vielen Brasilianern Angst. Einige versuchen, sich selbst zu helfen. Robson dos Santos ist einer von rund fünf Millionen Nutzern von OTT, kurz für „Onde Tem Tiroteio?“ („Wo gibt es Schießereien?“) Rund ein Drittel der Einwohner von Rio checken Schusswechsel so selbstverständlich wie andere das Wetter. Nahezu alle Nutzer, mit denen wir gesprochen haben, sagten: OTT rettet Leben. Und ebenso viele sagen: OTT macht Angst. Öffentliche Sicherheit ist ein hochkomplexes Problem mit Hunderten Wurzeln. Kann eine App die Lösung sein?

Vom Zentrum Rios brauchen wir über eine Stunde zum Haus von Benito Quintanilha, dem Gründer von OTT. Wir passieren zwei Gitter, dahinter eine Wohnsiedlung. Quintanilha, ein 43-Jähriger, öffnet die Haustür in Badehose und Crocs, in der Hand sein Handy, auf dem Tisch steht aufgeklappt ein Laptop, im Fernsehen läuft ein 24-Stunden-Infosender. Er zeigt uns sein Handydisplay, klickt die Übersicht der OTT-App: Mittwoch, 13.02 Uhr, 61 Schießereien allein heute, allein in Rio.

Angefangen hat er im Juli 2016. Quintanilha, von Beruf Ingenieur auf einer Bohrinsel, sah eine Reportage im Fernsehen über eine junge Frau, die von einem Querschläger getötet wurde. Quintanilha dachte sich: Das kann nicht sein! Er gründete die Facebook-Gruppe OTT, lud Freunde ein. Sie meldeten Schusswechsel in ihren Vierteln, luden wiederum ihre Freunde ein, das Netzwerk wuchs. Sie entwickelten eine App, integrierten OTT im Sprachnachrichtendienst Zello, gründeten Hunderte WhatsApp-Gruppen und ein System, das vor Falschnachrichten schützen soll: Nutzer melden Schießereien direkt an die vier Gründer, die verifizieren die Meldungen mithilfe Tausender Freiwilliger und schicken sie dann sortiert an die App.

Ende 2016 erreichte OTT bereits über eine Million Menschen in Rio.
Ein Video aus dem Stadtteil Vila Paulina trifft ein, rote Schlieren ziehen sich durch den Himmel, Knallgeräusche, das Video ist unscharf. Quintanilha sendet es in die Vertrauensgruppe, wippt mit den Beinen, dreht an seinem Ehering herum, wartet nervös auf Antwort. Dann surrt das Handy, ein Video aus anderer Perspektive: eine Bestätigung. Quintanilha drückt auf den Aufnahmeknopf: „Achtung, OTT informiert – 13:43 Uhr, Schusswechsel in Vila Paulina.“ Er schickt die Sprachnachricht gemeinsam mit den Videos an die App. Quintanilhas Handy surrt – keine Übertreibung – jede Sekunde. Er betreut mehr als 500 OTT-Gruppen. Quintanilha prüft jedes Video, spricht die Nachrichten ein, rund 50 am Tag. Sein Handy, sagt er, lade er neun Mal am Tag auf. Er wirkt müde, fast traurig. Er arbeite von 9 Uhr 30 morgens bis Mitternacht, nachts übernehme einer der anderen.

Wege zur öffentlichen Sicherheit?

Die Rockefeller Foundation nahm OTT in ihren „Atlas of Innovation“ auf, nannte es ein Vorbild für „technology-enabled innovations that promote public safety“. „Wir sind ein öffentlicher Dienst geworden“, sagt Quintanilha, „wir haben Aufgaben der Polizei übernommen.“ Wer in eine Schießerei gerät, informiert nicht die Polizei, sondern Benito Quintanilha.
Alessandra Regondi gehört dazu. Im Sommer 2018 steigt sie mit ihrem Mann in ihr Auto. Am Rande einer Schnellstraße sieht sie Polizisten, die aufgeregt in ihre Funkgeräte sprechen. Regondi sagt ihrem Mann: „Das geht nicht gut aus.“ Sekunden später, so erzählt sie, schlägt eine Kugel in ihr Auto ein, trifft den Reifen, das Auto hebt ab, als wäre es über eine Rampe gefahren. Im Auto neben ihnen zerfetzt die Kugel die Kopfstütze der Fahrerin. Regondi gibt Gas, nimmt die vor ihnen liegende Ausfahrt. Nach 15 Minuten erreicht sie ein Shopping-Center, in dem ihr Mann und sie sich verstecken.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung