Green Border - © Panda Film.

„Green Border“: Wo sich Europa delegitimiert

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An seinen Grenzen endet Europas Menschlichkeit. Kaum ein Spielfilm „dokumentiert“ dies so eindrücklich wie Agnieszka Hollands Flüchtlingstragödie „Green Border“.

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An seinen Grenzen endet Europas Menschlichkeit. Kaum ein Spielfilm „dokumentiert“ dies so eindrücklich wie Agnieszka Hollands Flüchtlingstragödie „Green Border“.

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Im vergangenen Herbst gehörten der Film „Green Border“ und Regisseurin Agnieszka Holland zu den Feindbildern der damaligen, bei den Wahlen vom 15. Oktober unterlegenen PiS-Regierung in Polen. Kurz zuvor war die Arbeit der Doyenne des polnischen Films in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet worden. Dabei muss man diesem jüngsten Opus Hollands bescheinigen, mitnichten „antipolnisch“ zu sein.

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Vielmehr hält der Film der europäischen Gesellschaft und ihren Abgründen den Spiegel vor, indem er die Verhältnisse an der polnisch-belarussischen Grenze zum Ausgangspunkt nimmt, um anhand von individuellen Flüchtlingsschicksalen an den „Außengrenzen“ der Europäischen Union zu zeigen, wie barbarisch und die Menschenwürde verletzend das reale Europa zurzeit ist. Nur wer seine fünf Sinne nicht beisammen hat, wird „Green Border“ ein gegen Polen gerichtetes Ressentiment vorwerfen, denn die Geschichte könnte genauso gut an den bulgarischen oder griechischen EU-Außengrenzen spielen, gar nicht zu reden von den europäischen Mittelmeerstaaten, welche die Flüchtenden in abenteuerlichen Überfahrten zu erreichen suchen.

Nur wer seine fünf Sinne nicht beisammen hat, wird ‚Green Border‘ ein gegen Polen gerichtetes Ressentiment vorwerfen; die Geschichte könnte genauso an anderen EU-Grenzen spielen.

Speziell ist natürlich die historische Konstellation, dass der belarussische Diktator Aljaksandar Lukaschenka Flüchtlinge per Flugzeug nach Minsk und dann per Auto an die polnische Grenze karren lässt, um sie dort einem Pingpongspiel zwischen polnischen und belarussischen Pushbacks auszusetzen. Alle einigermaßen wachen Zeitgenossen wissen längst um diese menschenunwürdigen Vorgänge. Die große Tat, die „Green Border“ vollbringt, ist, diesem Wahnsinn auch Gesichter zu geben. Denn die Handlung ist zwar Fiktion, aber sie zeichnet die brutale Wirklichkeit nach, an der es nichts zu beschönigen gibt.

Green Border - © Panda Film
© Panda Film

„Green Border“ zeigt das anhand des Schicksals einiger Passagiere eines Flugzeugs, die 2021 in Minsk gelandet sind und dann an die polnische Ostgrenze geschafft wurden. Trügerisch, dass sie in der belarussischen Hauptstadt mit einer Blume empfangen wurden auf dem Weg in die „Freiheit“. Wenig später werden sie von den belarussischen Schergen über die Grenze nach Polen getrieben und dort von den Grenzern wieder nach Belarus zurück. Die ganze individuelle Unmenschlichkeit wird offenbar, wenn der Grenzer der einen Seite einem fast Verdurstenden mit Glasscherben versetztes Wasser zu trinken gibt und jener auf der anderen Seite der Englischlehrerin Leila aus Afghanistan, die um einen Schluck Wasser fleht, dafür 50 Euro abzuknöpfen sucht.

Stellvertreter der Weltöffentlichkeit

Die afghanische Lehrerin, die vor den Taliban geflüchtet ist, ist eine der Protagonistinnen im Film, die erkennen muss, dass sie nicht in einem gelobten Land, sondern in einer neuen Weise der Barbarei angekommen ist, der sie ja zu entkommen suchte. Da sind dann auch Bashir und die schwangere Amina, die mit ihrer syrischen Familie vor dem IS und dem Assad-Regime geflohen sind: Auch sie geraten in die Mühlsteine der Pushbacks. Eines ihrer Kinder ertrinkt in diesem Wahnsinn: Der Zuschauer wird zum Stellvertreter einer Weltöffentlichkeit, die dies achselzuckend, teilnahmslos oder fassungslos geschehen lässt.

Agnieszka Holland geht aber auch der polnischen Seite an der Grenze nach: Grenzsoldat Jan und seine schwangere Frau sind gleichfalls Protagonisten des Films. Jan ist hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung, der Propaganda seiner Vorgesetzten, die den Grenzern einhämmern, die Flüchtlinge seien verkappte Terroristen, die das Land mit Anschlägen überschwemmen würden, und dem Zweifel, ob das, was er tut, richtig ist. Und auch Aktivistin Julia, die an der Grenze versucht, Flüchtlingen zu helfen, gerät in die Fänge der Staatsmacht, die vorgibt, Europa zu schützen.

Regisseurin Holland erzählt in diesen ineinander verwobenen individuellen Geschichten, wie sehr die prekäre Grenzlage das europäische Freiheits- und Wohlstandsversprechen delegitimiert. Dass Europa auf Kosten nicht nur der Natur, sondern auch der Menschen anderer Weltgegenden lebt, wird anhand dieser Schicksale mehr als greifbar. In der Bildersprache, in den Gesichtern, die „Green Border“ zeigt, ist der Film kaum erträglich, düsteres Licht und dokumentarisches Schwarzweiß tun ein Übriges. Wenn man mit Film die unerträgliche Konsequenz europäischer Politik auf den Punkt bringen kann, dann so wie dieser eindrückliche Zugang von Holland.

Ob „Green Border“ aber auch etwas bewirken wird? Film als unerbittlicher Chronist der Zeitläufte – das mag hier ein weiteres Mal beklemmend sichtbar sein. Wie aber Menschen aufrütteln, die einfach nicht sehen wollen, was Geflüchteten angetan wird? Dass Film – wie bei „Green Border“ – sich zur moralischen Anstalt aufschwingt, wird da leider nicht genügen.

Green Border - © Panda Film.
© Panda Film.
Film

Green Border (Zielona Granica)

PL/F/CZ/B 2023. Regie: Agnieszka Holland
Mit Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Ataï, Mohammad Al Rashi, Dalia Naous, Tomasz Włosok.
Panda Film. 152 Min.

FURCHE-Interview mit Regisseurin Agnieszka Holland

Polnische Regisseurin Agnieszka Holland  - © Foto: Getty Images / Vittorio Zunino Celotto
© Foto: Getty Images / Vittorio Zunino Celotto

Im Oktober 2023 sprach DIE FURCHE mit Green Border-Regisseurin Agnieszka Holland über ihren Film und die politische Lage in Polen. Hier nachzulesen!

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