Aus der Zeit gefallen

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Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" veschneidet die Leben von Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.

Das diffuse Bewusstsein, in einer rasanten Umbruchszeit zu leben, lenkt den Blick aktuell verstärkt auf jene Phase der Geschichte, in der begann, was unsere Gegenwart prägt: das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter. Und die Abenteuer der frühen Welteroberer faszinieren umso mehr, je ausgetretener die Pfade auch abseits der Touristenströme werden, was in der österreichischen Literatur schon vielfältige Spuren hinterlassen hat.

Daniel Kehlmann führt in seinem neuen Roman "Die Vermessung der Welt" beide Momente zusammen, indem er die Leben zweier historischer Figuren miteinander verschneidet, die beide auf ihre Art den Geist der Aufklärung verkörpern. Der Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß (1777-1855) entdeckte Gesetzmäßigkeiten und formulierte Lehrsätze, die den Stand der statistischen und (vermessungs)technischen Beherrschung der Welt revolutionierten. Der Naturforscher und Weltreisende Alexander von Humboldt (1769-1859) machte sich daran, mit den neuen Gerätschaften die Welt in der Praxis zu vermessen und zu systematisieren.

Das Buch setzt 1828 ein mit einem Treffen der beiden betagten Zelebritäten, deren Ruhm schon zu verblassen beginnt. Die Forschung hat sich dank ihrer Basisarbeiten rasant weiterentwickelt; die beiden wirken ein wenig wie aus der Zeit gefallen und finden sich in den politischen Wirrungen nach den Napoleonischen Kriegen absolut nicht zurecht. In portionierten Rückblenden wird die Lebensgeschichte der beiden Wissenschaftler nachgereicht. Gauß ist als Sohn eines Gärtners immer angewiesen auf Förderer, und lernt doch nie, sich zu arrangieren. Er ist schrullig, verbohrt, ohne jedes Talent für das Alltagsleben und zerstört mit systematischen Demütigungen das Leben seines Sohnes. Kehlmann vergisst auf keine der bekannten Anekdoten, allen voran die Entdeckung der arithmetischen Reihe durch den Volksschüler Gauß. Sogar die Hochzeitsnacht, so lesen wir, wäre beinahe gescheitert, weil der große Mann just im entscheidenden Moment eine bahnbrechende Idee notieren muss.

Während Gauß seine Entdeckungen ausschließlich im Kopf macht und in Göttingen eine äußerst statische Lebensweise führt, hält sich der wohlhabende Humboldt die Welt fern, indem er sie praktisch vermisst, denn, so sein Physiklehrer Marcus Herz, "Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen". Das wird Humboldt in der Folge machen. Seinen emotionalen Defiziten und Problemen - der Konflikt mit seinem Bruder Wilhelm, seine Homosexualität - fährt er davon. Ausführlich wird seine legendäre Mittel- und Südamerika-Reise in den Jahren 1799 bis 1804 geschildert - bis hin zur tragischen Diskrepanz zwischen den Strapazen des Unternehmens und seinem realen praktischen Wert.

Menschlich entsprechen beide Wissenschaftler sehr genau dem, was Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener als "Hirnstern" beschrieben hat, an dem "der Sinnenkrüppel" hängt, dem das Gehirn "davongewachsen" ist. Zum Teil ist es soziale Unfähigkeit, die Gauß wie Humboldt zu "menschlichen Wissenskatastrophen" macht, zum Teil bewusste Skrupellosigkeit im Interesse des eigenen (Nach)Ruhms.

Kehlmann ist sehr nahe an seinen Figuren dran; er weiß in jedem Moment, was sie denken, fühlen und sagen. Dass er dafür die indirekte Rede verwendet, soll erzählerische Distanz signalisieren, ändert aber nichts Prinzipielles. Mit postmodernem Zwinkern baut Kehlmann aus bekannten Fakten einen fiktional angereicherten Live-Bericht aus ferner Zeit. Das hieß früher biografischer Roman und brachte Hunderte von Variationen zu Beethoven, Columbus oder Goethe hervor. Der tritt auch in der "Vermessung der Welt" auf: In einer der ironisch distanzierteren Szenen "entsendet" er Humboldt großmütig im Namen des "Weimarer Kreises" auf seine Expedition.

Kehlmann gilt als "philosophischer" Autor, der in seinem letzten Roman "Ich und Kaminski" den Genie-Begriff dekonstruiert habe. Nun erzählt er sprachlich allert, aber mitunter auch ins Phrasenhafte kippend, die menschliche und historische Tragik zweier Genies.

In einem Interview bezeichnete Kehlmann jüngst sprachkritische Ansätze als veraltete Neuauflage dadaistischer Konzepte und verortete das "Neue" an seinem Schreiben in der "Öffnung des Traumbereichs", wie er es bei Garcia Marquez verwirklicht sieht. Doch diese Öffnung wurzelt - wie das Konzept des Geniebegriffs - in der Romantik.

Die Vermessung der Welt

Roman von Daniel Kehlmann

Rowohlt Verlag, Reinbek 2005

301 Seiten, geb., e 20,50

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