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Ein Autor ohne sentimentalen Himbeersirup und ohne Gebrüll

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Sohält der entmündigte Friedrich Glauser 1937 sein Vorhaben brieflich fest: „Ich möchte probieren, ob es nicht möglich ist, ohne sentimentalen Himbeersyrup, ohne sensationelles Gebrüll Geschichten zu schreiben, die meinen Kameraden, den Gärtnergehilfen, den Maurern und deren Frauen ... kürz der großen Mehrzahl gefallen, weil sie spannend sind und doch so geschrieben sind, daß auch Leute, denen alles Höhere fremd ist sie verstehen. Sie werden sagen, das sei ein Unsinn und unmöglich. Ich glaube das nicht einmal. Man muß sich nur geduldig hinsetzen und lernen. Lernen zu erzählen, lernen aufzubauen, lernen klar zu sein."

Friedrich Glauser, 1896 in Wien geboren und 1938 in Nervi bei Genua gestorben, gilt heute als einer der zahlreichen zu Unrecht vergessenen Autoren. Seinen hundertsten Geburtstag am 4. Februar hat der Lim-mat Verlag in Zürich zum Anlaß genommen, sein Werk neu aufzulegen.

Der frühe Verlust seiner Mutter und ein lebensmüder Vater prägen Glausers turbulente Kindheit. Als er am Wiener Gymnasium versagt, wird er in eine Schweizer Erziehungsanstalt gesteckt. Nach seinem 20. Geburtstag zieht er nach Zürich, wo er die Bekanntschaft mit Dadaisten wie Hugo Ball macht. Aufgrand seiner Exzesse und Morphiumsucht wird er 1918 für unmündig erklärt. Auch zahlreiche Anstaltsaufenthalte können ihn von seiner Sucht nicht heilen. 1934 faßt Glauser den Entschluß, Schriftsteller zu werden und entwirft die Figur des Wachtmeisters Studer, den Helden des vorliegenden Bandes „Matto regiert".

Eine Irrenanstalt im Kanton Bern in den zwanziger Jahren: der Direktor ist verschwunden, der Patient Pieter-len, ein Kindsmörder, ausgebrochen, Doktor Laduner, der ehrgeizige Direktor-Stellvertreter, will die Vorfälle ohne großes Aufheben gelöst wissen. Bei seiner Fahndung geht Studer nicht mit konventionellen kriminalistischen Mitteln vor, sondern versucht, sich auf die Beteiligten einzulassen, was ihm von Laduner den Titel eines „poetischen Fahnders" einbringt. Der Wachtmeister glaubt, sich seines Erfolges sicher zu sein: er entdeckt den toten Direktor, findet den verschwundenen Patienten und ist überzeugt, den Mörder entlarvt zu haben. Ob indes tatsächlich von Erfolg die Rede sein kann, ist mehr als fragwürdig: Der Selbstmord eines Krankenpflegers, ein weiterer Todesfall gehen auf Studers Verantwortung -und wer und weshalb dieser den Direktor ermordet hat, weiß in der Tat nur Laduner.

Zweck der Geheimhaltung war die Heilung eines Patienten, der sich selbst fälschlich für den Mörder gehalten hat. Mit einer Schocktherapie sollte ihm geholfen werden, doch er wird bei seiner Verhaftung durch Studer vom Anstaltsportier erschlagen, der wiederum bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt.

Bis es endlich so weit kommt, daß der Leser die wahren Hintergründe von Laduner selbst erfährt, wird er vom Autor in eine andere Welt entführt, in das Reich, wo der Matto, der Geist des Irrsinns, regiert. So ist die Kriminalgeschichte nur die Folie, die Glauser dazu benutzte, um einen Anstaltsroman zu schreiben. Was er wollte, war, „eine Art Spiegelbild der Menschheit" zu geben. Die Figur des Wachtmeisters ermöglichte es Glauser, in die äußersten Winkel einer Anstalt vorzudringen und seine eigenen Anstaltserlebnisse fern von jeglicher autobiographischen Bewältigungsliteratur zu Papier zu bringen. Herausgeber Bernhard Echte, liefert in seinem Nachwort die Hintergründe des Romans, der auf Glausers Internie-rang in der Münsinger Anstalt zurückgeht. Dort konnte er sich im Zuge seiner Beschäftigungstherapie, Abtippen von Krankheitsgeschichten, einen genauen Einblick in den Klinik -allltag verschaffen. So erfährt man auch über psychiatrische Behandlungsmethoden der zwanziger Jahre, nach denen scheinbar aussichtslose Fälle mit Schocktherapien, Schlafku-ren und Infektionen mit Krankheiten wie Typhus geheilt werden sollten. Daß diese oft für den Patienten tödlich ausgingen, bleibt nicht unerwähnt.

Der Roman „Matto regiert" ist der vierte Band der siebenteiligen Ausgabe von Glausers Werken. Auf die ausstehenden darf man gespannt sein.

MATTO REGIERT

Roman von Friedrich Glauser. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bernhard Echte. Limmat Verlag, Zürich 1995. 306 Seiten, Ln,öS296.

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