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Emigrantenschicksale

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Hilde Spiel legt, nach ihren literarischen Essaybänden und der großen Studie über Fanny Arnstein, nun einen Roman vor, der ebenso durch die hintergründige Handlung wie den brillanten Stil der Autorin fasziniert. Die Geschichte wird von dem jungen lettischen Mädchen Lele erzählt, dessen Unbefangenheit und innere Distanz 'gegenüber den Geschehnissen — so sehr es in sie hineingezogen scheint und es zeitweise auch ist — das Tragisch-Grausame und Sinnlose, das wir erfahren, als Ausnahmesituation empfinden läßt. Für Lele selbst äst die gespenstische Welt, in die sie hineingerät, nur Übergang, der in ein einfaches und glückliches Leben mündet.

Die Handlung spielt in New York am Ende der vierziger Jahre, in Emigrantenkreisen, deren Mittelpunkt die österreichische Jüdin Lisa Leitner Curtis ist. Eine exzentrische, verführerisch schöne und hemmungslose Frau, die durch frühe Enttäuschungen und Verletzungen zu jenem ausschweifenden, selbstzerstörerischen Geschöpf geworden ist, dem wir hier begegnen. Lisas Zimmer wird zum Treffpunkt einer Gruppe von Männern und Frauen, die, rat- und wurzellos dm Exil, überholte Anschauungen aufwärmen und eine gestorbene Wedt zu neuem Leben erwecken möchten. Selbst die, die sich arrangiert und keine Existenzsorgen haben, hängen melancholischen Erinnerungen an die Vergangenheit nach, leiden an „unstillbarem Heimweh und rettungsloser Fremdheit“ in ihrer neuen Umgebung; sind „von ihrem Liebeshaß auf Europa und ihrer Haßliebe zu Amerika“ vergiftet. „Figuren aus der Ferne und Vergangenheit, Sinnbilder für alles Tote und Überholte, Lemuren auf einem Friedhof“ — so schildert

Lele Lisas Gäste. Lisa selbst wird für sie zu „einem fürchterlichen Inbegriff Europas“, das sie „überall mit sich trug, wohin sie auch ging, das sie in diesem Zimmer auf der Westseite von Manhattan getreulich wieder aufgebaut hatte, damit es jeden, der hier eintrat, in seinen Zauberbann zog...“

Diese Lisa ist bei aller Brüchigkeit ihres Wesens eine großartige Gestalt. Auch die anderen Figuren der Handlung — „abgetakelte Versager, wurmstichige Vaterflguren und zahnlose Klapperschlangen“, wie Mrs. Langendorf, der böse Stern der Gruppe, sie charakterisiert — haben eine makabre Ausstrahlungskraft, sind so anschaulich gezeichnet, daß den Leser Furcht und Grauen überfällt. Einzig Lele, die „ganz Gegenwart“ ist, und Jeff, Lisas dritter Mann, der nach dem Tod seiner Frau mit dem jungen Mädchen zu neuen, freundlicheren Ufern aufbricht, sind Gegenspieler in diesem Reigen von lebendig Toten.

Nicht nur die Menschen des Romans sind von großer Eindruckskraft. Die Welt, die sie geprägt hat, die Atmosphäre von Städten und Ländern wird heraufbeschworen; die historischen Ereignisse, oft nur mit ein paar Strichen angedeutet, erscheinen als Hintergrund der Einzelschicksale und geben ihnen typische Bedeutung. Das Buch erweist Hilde Spiels Fähigkeit der Zusammenschau, die mit einem enormen Detailwissen gepaart ist. So konnte ein Roman von seltener Spannweite entstehen.

Die Autorin hat übrigens selbst das Schicksal der Emigration erlebt. Man spürt, daß ihrem Buch eigene Erfahrungen zugrunde liegen, die sie in der Gestaltung kraftvoll gebändigt und bewältigt hat.

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