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Auf krausen Pfaden

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ICH HABE VIELE LEBEN GELEBT. Erinn erungen von Margarete Susman. Dent- che Verlagsanstalt, Stuttgart, IBM. 18 Seiten. Preis 19.8 DM. - ZEITBILDER — 1901 bis 1984. Von Anette Kolb. S.-Fiseber-Verlag, Frankfurt Main, 1964. 208 Seiten. — REGINA ULLMANN. Eine Biographie von Ellen D e 1 p. Beniiger-Verlag, Einsiedel . Zürich, Köln. 239 Selten. Preis 17.20 sFr.

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ICH HABE VIELE LEBEN GELEBT. Erinn erungen von Margarete Susman. Dent- che Verlagsanstalt, Stuttgart, IBM. 18 Seiten. Preis 19.8 DM. - ZEITBILDER — 1901 bis 1984. Von Anette Kolb. S.-Fiseber-Verlag, Frankfurt Main, 1964. 208 Seiten. — REGINA ULLMANN. Eine Biographie von Ellen D e 1 p. Beniiger-Verlag, Einsiedel . Zürich, Köln. 239 Selten. Preis 17.20 sFr.

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Vor uns liegen drei Erinnerungsbücher von Frauen, die, in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts geboren, sich als junge, geistig interessierte und schöpferische Menschen mit einer neuen Welt auseinanderzusetzen hatten, in deren Persönlichkeitsentwicklung sich der Wandel der Zeit lebendig spiegelt.

Besonders gilt das für Margarete von Bendemann-Susman, deren Lebenserinnerungen jetzt im Rahmen der Veröffentlichungen des Leo- Baeck-Instituts erschienen sind, das um die Erforschung der Geschichte der deutschen Juden bemüht ist. In ihren Reihen spielt Margarete Sus- man als eine der wenigen noch lebenden Gestalten des einst so fruchtbaren deutsch-jüdischen Geistesaustausches eine bedeutende Rolle, und eine einmalige dazu. Denn es gibt ja kein deutsches Judentum mehr und wird, nach allem, was geschehen ist, kaum je wieder eines geben können. Hier nun, in ihren ergreifenden Aufzeichnungen, die sie, fast neunzig Jahre alt, gemacht hat, sind sie alle noch einmal versammelt; ihre vielen toten jüdischen und nichtjüdisehen Freunde, und einige, die noch unter uns weilen: Karl Wolfskehl, Stefan George, Georg Simmel, Heinrich Simon, Gustav Landauer, Martin Buber, Leo Baeck, Ernst Bloch, Eugen Rosenstock, Franz Rosenzweig, Ernst Robert Curtius, Victor von Weizsäcker, Ida Friederike Görres, Walter Nigg, Ingeborg Bachman, Paul Celan —, um nur einige zu nennen, die für die persönliche und geistige Entwicklung der Margarete Susman von Bedeutung waren. Welch eine Spannweite und Vielfalt zeichnet sich in diesen Namen ab — lange vergangene Zeiten und die jüngste Gegenwart, die die alte Dame wach und aufmerksam verfolgt und auf sich einwirken läßt, werden lebendig.

Die Autorin entstammt einer kultivierten jüdischen Familie, sie wurde 1872 in Hamburg geboren und tebte .dann ab ihjem elften Jahr in Zürich, später wieder in Deutschland und in der Schweiz. Ihre Fami- lieiMJo religiöser Hinsicht indifferent, so daß zunächst nicht die jüdische, sondern die deutsche Tradition die Entwicklung Margarete Susmans bestimmt, vorwiegend das Weltbild des deutschen Idealismus. „Der große deutsch-idealistische Traum“, von dem sie mehrmals verzeichnet, daß er ihr den Zugang zum wirklichen Leben verstellte. Ein unerschütterlicher Glaube an das „Gute und Schöne“, wie es in dieser Weise nicht existiert, eine Überschätzung des Menschen, führt zu Enttäuschungen, die immer doch irgendwie verkraftet und bewältigt werden. Aber das Leben, das Margarete Susman, trotz ihrer Liebe zu ihm, nie leicht lebbar war, wird durch diese idealistische Einstellung noch schwieriger. Das „gelebte Leben“, „Leben der reinen Gegenwart“, ist ihr weitgehend verschlossen. Und doch hat sie sich, in erstaunlicher Weise offen gehalten für den Wandel der Zeiten, der während ihres langen Lebens vor sich ging, hat den Wandel der Begriffe und Werte ganz persönlich mitvollzogen. Sie ist mitgewachsen, hineingewachsen in die ganz verschiedenen Wirklichkeiten und Weltauffassungen, die die beiden Kriege und die Entwicklung der

Naturwissenschaften und Philosophie auslösten. „Ich habe nicht nur ein, ich habe viele Leben gelebt.“

Dahinein gehört auch ihre spätere intensive Auseinandersetzung mit dem Judentum, die in ihrem Hiob- Buch den schönsten Ausdruck findet, ein Buch, von dem sie sagt, daß darin ihr ganzes Leben sei. Sie vergleicht Hiobs Schicksal mit dem des jüdischen Volkes, das, „vom Tod geschlagen“, am Leben blieb.

Welch andere Lebensluft weht in den Erinnerungen der Annette Kolb, die nur drei Jahre jünger ist als Margarete Susman, die teilweise den gleichen Menschen nahestand wie sie, die ebenfalls nach 1933 emigrierte.

Wenn Annette Kolb auch selbst einmal vermerkt, ihr Leben sei zu gleichen Teilen benachteiligt und begünstigt gewesen — dem Leser scheint es ein Leben voll Glanz und Fülle, in dem Glück und Freude das Leid überwiegen.

In den Betrachtungen aus der Zeit zwischen 1907 und 1964 — kunterbunten Plaudereien über Reisen und Landschaften, über Bücher und Musik, über Erlebnisse mit Tieren und Pflanzen, und, nicht zuletzt, über Begegnungen mit Freunden aus aller Welt, über Abschiede, auch immer wieder Abschiede von geliebten Menschen und Dingen — steht sie noch einmal ganz lebendig vor uns: diese deutsch-französische

Europäerin, die letzte „grande Dame“ der europäischen Literatur. Es gibt da verliebte Seiten über Salzburg und Wien mit sehr persönlichen Episoden; glanzvolle Berichte über verschiedene Festspielsommer in der Salzachstadt; der letzte, 1937, schon beschattet vom „Einbruch der Barbarei“. Wunderbar der melancholische „Abschied von Österreich“, eine einzige Liebeserklärung an dieses Land: „Aller vollzogenen Tatsachen ungeachtet, eine Scheintote nur“ — dieser Satz wurde 1937 geschrieben. Wie köstlich auch die erste „glückliche., Reise“, in die USA, 1939 zum Pen-Club-Kbngreß in New York, wohin sie später als .Emigrantin kommen. . sdülte.-,: Hoffnung und Ängste halten sich die Waage bei jenem ersten Besuch — Wie persönlich und unmittelbar vermag die Kolb ihre zwiespältigen Gefühle dem Leser zu vermitteln.

Das überhaupt macht den besonderen Reiz dieser Blätter aus: die Originalität der Gedanken, die Intensität der Empfindungen, das Engagement für Frieden und Völkerverständigung, für eine menschlichere Welt. Dazu die Eindrücke, gewissermaßen im Vorübergehen: kleine, feine Beobachtungen, Streiflichter, Momentaufnahmen — in einer teils sehr exakten, teils poetischen Prosa aufgezeichnet.

Es ist viel vom Glanz und Zauber einer unwiederbringlich verlorenen Welt in diesem Buch. Aber faszinierender noch, daß in Annette Kolb ein scharfer unbestechlicher Geist sich so gut mit einem liebevollen Herzen verträgt. Sie ist doch ein Glückskind des Lebens!

Auch Regina Ullmann, über die ihre Freundin Ellen Delp eine Biographie geschrieben hat, ist, wie die beiden anderen Dichterinnen, ein Kind zweier Jahrhunderte, vom Geist beider mitgeprägt; aber mehr noch schöpft sie aus ganz ursprünglichen Quellen.

Tochter eines österreichischen Vaters und einer deutschen Mutter, 1884 in der Schweiz zur Welt gekommen, empfängt sie die wesentlichen Anregungen für ihre künstlerische Entwicklung in München, wohin sie, nach dem frühen Tod des Vaters, um die Jahrhundertwende mit der Mutter übersiedelt; und dort lebt sie hinfort über drei Jahrzehnte, bis sie in der Zeit des „Dritten Reiches“ in die Schweiz zurückkehrt.

Sie, die Scheue, Verschlossene, die doch im vertrauten Freundeskreis strahlende Wirkkraft erweist, hat dem wesensverwandten Rilke viel zu danken. Er ist von Anbeginn ein Förderer ihres Schaffens, das abseits aller modernen Strömungen sich entwickelt; und, was mehr bedeutet, er versteht sie und stärkt ihr Vertrauen in ihrem eigenwilligen Weg.

Ellen Delp hat mit viel Einfühlungsvermögen Persönlichkeit und Werk der Dichterin interpretiert, die, darin eine späte Nachfahrin Stifters und Kellers, dem Zauber des Unscheinbaren im Menschenleben und in der Natur in großen "Öfläeip einfängt Unsere Weit ist ihrer schlichten Weisheit und Einfalt sehr fern, die ihr erlaubt, sich — ‘„bei alier Ebbe’und Mut des Gemüts (Rilke) zu Hause zu fühlen auf der Erde Gottes“. Es lohnt, ihren Erfahrungen nachzugehen.

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