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Flucht aus dem Transitorium

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Unter den großen österreichischen Romanautoren ist es neben Kafka vor allem Musil, dessen Werk mit eigenartiger Strahlungskraft erst auf die unmittelbare Gegenwart einwirkt, so daß es scheint, als gäbe es der Deutungen und Interpretationen kein Ende. Es ist richtig — beider Autoren Werk läßt immer noch eine Menge offen, trotz der in der Zwischenzeit beträchtlich angewachsenen Literatur, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Beide' Autoren beschäftigen sich mit Dimensionen des Menschseins, die den modernen Menschen, der sich in der zeitgenössischen Literatur immer platter und flächiger widergespiegelt sieht, faszinieren müssen.

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Unter den großen österreichischen Romanautoren ist es neben Kafka vor allem Musil, dessen Werk mit eigenartiger Strahlungskraft erst auf die unmittelbare Gegenwart einwirkt, so daß es scheint, als gäbe es der Deutungen und Interpretationen kein Ende. Es ist richtig — beider Autoren Werk läßt immer noch eine Menge offen, trotz der in der Zwischenzeit beträchtlich angewachsenen Literatur, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Beide' Autoren beschäftigen sich mit Dimensionen des Menschseins, die den modernen Menschen, der sich in der zeitgenössischen Literatur immer platter und flächiger widergespiegelt sieht, faszinieren müssen.

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Was die Untersuchung Seegers über Musil so spannend macht, ist die Claudio Magris „Habsburgmythos“ ähnliche subtile Psychologisierung einer ganz bestimmten species humama, die unter vielerlei Gestalt Musils Roman bevölkert und als Homo Austriacus nahezu schon musealen Charakter hat. Seeger betrachtet das Problem Musil unter dem Aspekt der unerbittlichen Kollision zweier Welten, des freundlich altertümelnden Kakanien, einer Scheinwelt, deren Todesurteil längst gefällt war, und der Moderne, die jedoch mit Unbehagen und Entfremdung wahrgenommen wird. So entsteht für Musil die merkwürdige Situation, „wenn es weder vorwärts noch rückwärts geht und der gegenwärtige Augenblick auch als unerträglich empfunden wird“. Er zeigt Musil in dem Schwanken zwischen eiskaltem Zynismus — wenn er sich über die Sinnlosigkeit der Erhaltung des alten Staatengefüges „als Naturschutzpark für vornehmes Zugrundegehen“ ausspricht oder das alte Österreich als „Staat ohne Ge-

hirn“, als „anonymen Beamtenstaat“ bezeichnet — und einer liebenswürdig Züge nicht entbehrenden, märchenhaften Stilisierung eben dieser Welt, die durch Musil als Kakanien unsterblich geworden ist. Sicher ist die Parallele zur Romantik und der romantischen Forderung ironischer Verfremdung berechtigt, doch geht, wie Seeger richtig feststellt, Musil darüber hinaus, weil die poetische Verwandlung bei Musil der genauen, fast sezierenden Analyse niemals standhält. Kakanien ist keine Idylle, es ist nur das ins Mythische transponierte Abbild des Greisenalters einer Epoche, in der der Mensch Musil nicht mehr beheimatet ist. So wird das Märchen „zum Symbol der Flucht aus der falschen Geborgenheit und der Suche nach einer neuen“. Man muß aber hinzufügen, daß Kakanien für Musil speziell nicht aus der Welt schied, trotz der historischen Faktizität des Zusammenbruchs, sondern daß Musil aus Kakanien schied, das heißt, daß Kakanien niemals nur dieses Österreich in einem bestimm-

ten historischen Augenblick symbolisiert, sondern die Wirklichkeit schlechthin, Kakanien ist das Scheinbare, das nur Vordergründige, Kakanien könnte es überall und zu jeder Zeit geben, das alte Österreich liefert nur die Kulisse. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb der Roman Musils immer aktuell sein wird.

Es zeigt sich auch in dieser Untersuchung, daß die Behauptung,

Musils Roman sei kein organisches Ganzes, nicht stichhältig ist. Gerade die Kakanienkapitel sind die Voraussetzung für den zweiten Teil des Romans, in dem erst die Suche nach dem wahren oder eigentlichen Menschen beginnt, die Suche nach dem Mann mit Eigenschaften. Man kann wohl annehmen, daß dieser Teil immer Fragment geblieben wäre, selbst wenn Musil noch Zeit gefunden hätte, sedn Lebenswerk weiterzuführen.

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