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Fraulein Prillewits

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Im Städtchen Zutfen lebte einmal eine Lehrerin, die war verliebt. Es war, was man eine stille Liebe nennt. Darum hätte auch niemand davon erfahren, wenn nicht in Zutfen ein Menschenkenner gewohnt hätte, und das war der Schuldirektor.

„Mit Ihnen stimmt etwas nicht, Fräulein“, sprach der Direktor, „ich beobachte Sie seit Wochen In aller Stille und kann Ihnen sagen: dahinter steckt etwas. Sie haben keinen Appetit, und Sie machen Verse, Ich habe in der Kohlenkammer ein Gedicht gefunden, das mir persönlich gut gelungen scheint, nur müssen Sie die ,N' etwas deutlicher machen, überdies, Fräulein, läßt es sich nicht verheimlichen, daß Sie Ihre Lippen schminken. Nachdem ich diese Tatsachen festgestellt hatte, war meine erste Frage: Warum schminkt sie die Lippen, was nimmt ihr den Appetit, wo sind die Quellen der Poesie? Können Sie mir folgen?“

„Jawohl, Herr Direktor.“

„Gut. Ich wußte sehr wohl, daß die Lösung dieses Problems nicht unter die Verpflichtungen fällt, die mir mein Amt auferlegt. Es waren demnach andere als rein amtliche Gefühle, die mich dazu veran-laßten. Sie haben ein Anrecht auf meine väterliche Zuneigung. Fräulein Prillewits.“

„Ich danke Ihnen, Herr Direktor.“

„Gut. Dies sind also die Tatsachen. Sie leugnen sie nicht, was Ihnen zur Ehre gereicht und mich der Mühe der Beweisführung enthebt. Die erste Frage, die sich ein Mensch angesichts von Tatsachen stellt, ist folgende: Was ist die Ursache dieser Tatsachen? Denn alles hat eine Ursache, Fräulein Prillewits.“

„Natürlich, Herr Direktor.“

„Gut. Was also, frage ich mich, ist die Ursache dieser Tatsachen? Denn ich sehe keinen Grund, warum gerade diese Tatsachen der Ursachen entbehren sollten. Bei der Lösung dieser Frage ging ich vollständig systematisch zu Werke, indem ich Sie zuerst in abstracto, dann in concreto behandelte. Können Sie mir folgen?“

„Nein, Herr Direktor.“

„Gut. Ich behandelte die Frage also zuerst in abstracto, hierauf in concreto. Erst fragte ich mich: Was veranlaßt eine junge Frau von Anfang Dreißig im allgemeinen, Verse zu schreiben und den Appetit zu verlieren? Die erhaltene Antwort prüfte ich sodann an dem konkreten Fall. Sie wissen doch, was konkret ist, Fräulein Prillewits?“

„Jawohl, Herr Direktor.“

„Gut. Bei der Beantwortung der ersten Frage stützte ich mich hauptsächlich auf Erfahrungen. Streng genommen nicht auf eigene Erfahrungen, Fräulein Prillewits, denn ich bin unverheiratet, doch auf solche Erfahrungen, die sich auf Beobachtung meiner Mitmenschen stützen. Und diese Erfahrungen verrieten mir, daß junge Frauen von Anfang Dreißig nur dann den Appetit verlieren und Verse schreiben, wenn sie verliebt sind. Haben Sie mir bisher folgen können, Fräulein Prillewits?“

„Jawohl, Herr Direktor.“

„Gut. Hierauf prüfte ich das Resultat jener Betrachtungen an dem vorliegenden Falle, die Frage also: ist Fräulein Prillewits — in concreto — verliebt? Besteht ein Grund, warum Fräulein Prillewits von den soeben genannten Erfahrungen abweichen sollte? Nein, ich sehe keinen solchen Grund. Demnach meinte ich, diese Frage mit einem offenen ,Ja' beantworten zu können. Als dies einmal feststand, ging ich weiter. Ich fragte mich: In wen ist Fräulein Prillewits verliebt? Bei der Beantwortung dieser Frage lenkte ich den Blick auf meine Umgebung. Es war nrr klar, daß eine Betrachtung des Lehrerpersonals die größte Aussicht auf Erfolg bot, eingedenk der Worte Ciceros: Das Auge der Liebe sieht nicht weit. Kennen Sie diese Stelle?“

„Nein, Herr Direktor.“

„Sie ist sehr bemerkenswert. Cicero wendet sich hier gegen die übergriffe der Prokonsuln in Gallien. Gut. Ich warf also einen Blick auf das Unterrichtspersonal und mußte nicht lange suchen, denn wir sind nur zu fünft, Fräulein Prillewits. Da ich Fräulein Heemskerk und Fräulein Beuns von vornherein ausschließen konnte, blieben nur Herr Jürgens, Herr Dekker, Herr Stevens und Herr Potter übrig. Betrachten wir diese Personen einen Augenblick etwas näher. Herr Stevens konnte gestern in einem intimen Kreis seinen sechzigsten Geburtstag feiern. Darf ich ihn ausschließen, Fräulein Prillewits?“

„Jawohl, Herr Direktor.“

„Gut. Herr Jürgens und Herr Dekker sind verheiratet. Die Frage, ob sie ausscheiden, darf hier überhaupt nicht gestellt werden, Fräulein Prillewits.“

„Nein, Herr Direktor.“

„Gut. Also bleibt Herr Potter übrig. Habe ich richtig geraten, Fräulein Prillewits?“

„Nein, Herr Direktor.“

„Gut... was sagen Sie? Nein, Fräulein Prillewits? Nein? Ich dachte doch... die Begründung war vollkommen korrekt... es ist... Sie meinen... ich begreife nicht... warum sehen Sie mich so an, Fräulein Prillewits! Sehen Sie mich nicht so an ... du lieber Himmel... ich wage es nicht zu glauben ... ich wage ... Anna!“ Aus dem Holländischen von A. F. C. Brosens

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