ganz dicht

Semier Insayif: Kontemplative Kürze und die Sinnlichkeit des Reisens

19451960198020002020

Unstillbare Lebenslust und die Entdeckung der Vielfalt Europas. Gedichtbände von Waltraud Haas und Hannes Vyoral.

19451960198020002020

Unstillbare Lebenslust und die Entdeckung der Vielfalt Europas. Gedichtbände von Waltraud Haas und Hannes Vyoral.

Werbung
Werbung
Werbung

„Listen to the hummingbird/whose wings you cannot see/Listen to the hummingbird/Donʼt listen to me“, so lautet das Zitat von Leonard Cohen, das im Gedichtband „pfeilschnell wie kolibris“ vorangestellt ist. Waltraud Haas begegnet großen Themen mit erstaunlicher Leichtigkeit. In 165 meist kurzen und bis auf wenige Ausnahmen ungereimten Gedichten entwickelt die Dichterin eine Meisterschaft der Kürze und entfacht dadurch eine reduzierte, besser gesagt fokussierte Fülle ganz eigener Prägung. Da heißt es an einer Stelle: „erinnerungen/mit dem schmetterlingsnetz/fangen/ist mein bemühen“.

Gedichte zwischen unstillbarer Lebenslust und reflexiv abgeklärtem Durchblick, aber häufig mit einem energievollen Augenzwinkern, das die Aufforderung zum Weiterspielen in sich trägt. „mein linkes auge/ist mein habe-ich-schon-gesehen-auge/mein rechtes/mein ich-will-nichts-mehr-sehenauge/damit will ich sagen/ich schiele immer mehr“. Mit entschlossener Ernsthaftigkeit wird jedem einzelnen Wort nachgeblickt und nachgehört. Waltraud Haas kreiert mit Humor, feiner Ironie und spielerischem Staunen einen poetisch-philosophischen Resonanz- und Erkenntnisraum mit geradezu kontemplativer Tiefe. „nun fallen die vögel/nicht wieder zurück/auf die bäume/sondern einfach nur/tot in den hof“.

Die Entdeckung der Vielfalt Europas ist in den Gedichten von Hannes Vyoral aus unterschiedlichsten Perspektiven nachzulesen und mit allen Sinnen wahrzunehmen und nachzuspüren. Im Gedichtband „EUROPA. eine reise“ heißt es an einer Stelle: „wir hatten flügel/aus den augen wachsend/sehnsucht/weit hinauf zu reichen/“.

So gerät man also mit und in den 324 Gedichten, ungereimt in freien Rhythmen, durch Wälder, ins Gebirge, zu Vulkanen, Flussdeltas und in Städte, ins Zentrum und an die Ränder dieses abwechslungsreichen Kontinentes. Und darüber hinaus erfährt man am Ende von jedem Gedicht, kursiv und klein gedruckt, Informatives zum Ort oder zur Landschaft und am Ende des Buches aufschlussreiche Anmerkungen und Erklärungen.

Die intensive Bildhaftigkeit lässt die bereisten Orte unmittelbar erleben, zu Fuß, mit dem Rad, der Bahn, über Gras, Beton und über „gestapelte dächer/vom rauch aus kaminen/zusammengehalten/vom nachmittagsdämmer/“. Dieses ansteckende „/heimweh/nach der ferne/“ lässt poetische Reiseatmosphäre einatmen.

Es ist ein buchstäbliches Gemisch von Erde, Himmel, Wasser, Luft mit der Schönheit und der Hässlichkeit zivilisatorischer Spuren. „und dort wo ich war/bleibt erinnerung/und da wo ich sein werde//erinnerung ‒ /die eine weiß nichts/von der anderen“.

„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 7.12.2023) Lyrik vor.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung