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Nicht alle Träumer sind Utopisten

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DER MANN MIGUEL SERRA. Roman von Jose Maria Gir on eil a. Josef-Knecht-Verlag, Frankfurt. Aus dem Spanischen übertragen von Eva Ruth Benzing. 463 Seiten. Preis DM 14.80.

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DER MANN MIGUEL SERRA. Roman von Jose Maria Gir on eil a. Josef-Knecht-Verlag, Frankfurt. Aus dem Spanischen übertragen von Eva Ruth Benzing. 463 Seiten. Preis DM 14.80.

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Wer für Vagabunden und Träumer, für Utopisten und Sünder etwas übrig hat, erkennt, daß gerade diese Art von Menschen bewußte oder unbewußte Pilger sind: sie sind nicht bloß Untaugliche fürs Normalleben, sie sind nicht nur Wanderer von einem Zirkus zum anderen — sie sind Menschen, die aus Ungenügen an sich und an der Welt das Heiligtum suchen. So ist Miguel Serra, dessen Leben man in diesem Roman begleitet. „Der einzige, der faulenzte, war Miguel Serra, der Sohn des Mannes aus Ampurdan, der Verwaiste, der verkrachte Jesuit, der verkrachte Fabrikant, der verkrachte Geschichtsprofessor, der Gitarrespieler, der berufsmäßige Pessimist, der Beschützer von Minderjährigen, der Bewohner des zauberhaften japanischen Pavillons, der Rentenempfänger, der hübsche Mann, der die Flammen liebte“ — so reflektiert der „Held“ über sich selbst. Es gelingt ihm alles, was er in die Hand nimmt, aber aus einem unbestimmbaren Instinkt wirft er alles wieder fort. Wer sich einmal in die Welt eingelassen hat, wird sie nicht mehr los. Miguel Serra fragt sich, was man hätte meiden müssen — am Anfang: die Kapuziner meinen: die erste Sünde: Miguel meint: das erste Achselzucken; der Freund Rubens meint: die erste Gebärde der Hoffart. Wer da recht hat, wird schwer zu entscheiden sein; vielleicht sind diese drei Möglichkeiten gar nichts Verschiedenes, sondern nur verschiedene Namen für den erb- sündigen Menschen. In der vorletzten Station wird Šerta Zirkusdirektor — bis er auch davon genug be- kornmt. Aber an diesem Ende hatte er etwas gelernt:

„Das Wichtigste war und blieb doch dies: daß alles in die Geschichte einging. So wußte man, daß das eigene Dasein nicht sinnlos verrann, daß man an irgend etwas beteiligt war, mitarbeitete. Es lag klar auf der Hand! Nicht nur, einen Sohn zu haben, wie Rubens’ Mutter oder der Taschenspieler, war Geschichte, nein — wozu sich etwas vormachen? — auch Frauen zu verlassen, einen Zirkus zu kaufen und zu verkaufen, schwere Sünden zu begehen — auch dies war Geschichte. Die Sünden waren sogar in dem Maße Geschichte, daß eine von ihnen, die erste, alle späteren Anfechtungen des menschlichen Blutes, alles menschliche Leid, ja sogar das der Tiere heraufbeschworen hatte. Ja, darin bestand die große Schönheit des Lebens: daß jede Handlung eines Menschen verewigt wurde, daß seine Habseligkeiten sich irgendwann einmal in Antiquitäten verwandelten.“ Das ist eine größenwahnsinnige Demut; das ist die Bescheidenheit eines Sünders. Denn Serra weiß genau, was auf dieser Erde, um sie überhaupt bestehen zu können, „ewig“ war: „Kinder, die Donau, ein Gefühl für Gerechtigkeit und die Beichtstühle.“ Serra ist der Sohn eines andalusischen Musikers: von ihm stammt das begeisterte Leben, die lebendige Begeisterung; seine Mutter war Französin: von ihr hatte er die ästhetische Lebensfreude und den ständigen Anfang. Der Zauber dieses Romans (endlich wieder einmal ein wirklich bezauberndes Buehl!) ist: ein Dichter hat ihn geschrieben!

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