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Wanderer auf der Schädelstätte der Geschichte

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Der Autor W. G. Sebald bezieht sich in seinem neuen Buch „Die Binge des Saturn" mehrfach auf einen Text von Jorge Luis Borges. In dessen Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" sinniert der Erzähler über die Möglichkeit, über das rein Irreale zu einer neuen Wirklichkeit zu gelangen. Einsiedler und Erfinder würden mittels labyrinthischer Konstruktionen unsere bekannte Welt so verwandeln, daß es künftig nur noch eine fiktive Vergangenheit gebe. Angesichts der Tatsache, daß unsere Geschichte aus einer endlosen Kette von Katastrophen bestehe, liege in der Fiktionali-sierung von Welt und Vergangenheit etwas wunderbar Befreiendes.

Das erste und das letzte Kapitel der zehn Etappen von Sebalds „englischer Wallfahrt" in der Grafschaft Suffolk setzt sich mit dem in Norwich, wo Sebald lebt, tätig gewesenen "Philosophen und Mediziner Browne auseinander, der, so heißt es beiläufig, Sohn eines Seidenhändlers gewesen sei.

Die Boute des Fußgängers, der langsam fürbaß schreitet, den Bucksack auf dem gebeutelten Kreuz, verläuft in einem Netz sich verzweigender Pfade in der gottverlassenen Öd-nis eines verwüsteten Landstrichs. Das Tableau, das dabei entsteht, ist die Szenerie einer abgewirtschafteten Zivilisation und einer zerstörten Natur, die sich ihr Terrain zurückerobert.

Das entspricht keiner apokalyptischen Vision, sondern sichtbarer Bealität, ja zuweilen meint der Wanderer, bereits über die Ruinen einer versunkenen Welt zu gehen. Sebalds Expedition ist keine Pilgertour zu heiligen Stätten, sondern die Reise eines Erdenfremdlings zu den Opfern der Weltgeschichte und der fortdauernden Menschenabschlachtung.

Es sind Geistesnomaden aus der großen Gemeinschaft der melancholischen Einzelgänger, die Sebald in ihren Häusern oder an ihren Gräbern besucht, ob sie nun Rrowne, Chateaubriand, Conrad, Sebaldus oder Michael Hamburger heißen. Ihre Spuren kreuzen sich in Suffolk unter dem Hundsstern. Unter dem Saturn zieht der melancholische Wallfahrer seine Bahn, die mitten hineinführt in die Beinhäuser der Geschichte.

Ungezählte mußten sterben, indem der Mensch Licht ins Leben bringen wollte und doch nur Kalamitäten und Katastrophen produzierte, die hinabführten in die Finsternis. Den roten Faden bilden die Leitmotive des Seidentuchs, des Feuers und der saturnischen Konstellation. Die horizontale, den Erdball umkreisende

Strömung grauenhafter Gewalt findet eine vertikale Gegenbewegung, mit der sich die in die Grube ziehende Schwerkraft überwinden ließe: In blitzlichtartigen Bildern vom Vogelzug, Sekunden federleichten Schwebens an extraterritorialen Orten, die den fremden Blick aus der Höhe erlauben.

Hier liegt wohl das Geheimnis von Sebalds aus der Zeit fallender Sprache: Sie schafft im ruhigen Rhythmus der Beharrlichkeit ein Refugium des Vertrauens in die Schönheit angesichts-der Vergänglichkeit. Er verwischt die Grenzen von Authentizität und Fiktion, so daß man beinahe glauben möchte, wir seien noch zu retten.

DIE RINGE DES SATURN

y|l Eine englische Wallfahrt. Von W. G. |Hb Sebald Eichborn Verlag, FrankfurtjM. WU 1995. 576 Seiten geb., öS 511,-

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