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Richtlinie für 1996: Genießen

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Die Diagnose wird ununterbrochen gestellt und hat sich allmählich herumgesprochen: Der Lebensstil der Österreicher ist zu aufwendig. Aufwendig vor allem deshalb, weil sich die lieben Landsleute daran gewöhnt haben, Quantität statt Qualität zü bevorzugen. Dahinter steht eine nicht erlahmende Gier, eine grundsätzliche Unersättlichkeit, ein beharrliches „Nicht -genugkriegenkönnen".

Ebenso sollte aber längst klar geworden sein, daß an dieser I^ebens-einstellung alle Appelle zerschellen, vor allem die mehr oder weniger naiven Appelle zur Bescheidenheit und zum Verzicht. Und darum bietet sich just ein konträrer Weg an, der Weg des Genusses. Oder genauer gesagt: wieder genießen lernen, wieder eine positive Beziehung zu den Dingen zu gewinnen statt sie nur anzuhäufen.

Auch die Bibel macht sich ja über den genußunfähigen Raffzahn lustig: „Wer reich ist und seine Schätze nicht genießen kann, der ist wie ein Eunuch, der ein Mädchen umarmt, aber nur seufzen kann." Oder: „Wer genießen kann, lebt länger." Oder: „Sag den Reichen, sie sollen ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum setzen, sondern auf Gott, der uns alles zum Genuß anbietet."

Es geht also um die Wiederentdeckung des Genusses - also Qualität vor Quantität. Genußfähige Menschen werden so zum gestaltenden Wirtschaftsfaktor. Sparen gilt zwar als christliche Tugend - vor allem bei den Calvinisten — aber in der Bibel kommt „Sparen" auffälligerweise nicht vor. Jesus war kein Sparer. Er hat ein Programm der Großzügigkeit vertreten: Umverteilung durch Herschenken.

So manchen gegenwärtigen christlichen Ideologen sei ins Stammbuch geschrieben: Jesus wollte nicht, daß alle arm werden, seine „Wirtschaftspolitik" bestand provokanterweise gerade darin, daß alle reich werden sollten. Wirtschaftspolitik muß immer eine utopische Komponente haben. 1996 muß endlich gespart werden, drohen alle Politiker. Steht uns also ein trauriges Jahr bevor? Die biblische Alternative des Genusses könnte uns davor bewahren, denn: Je mehr einer genießt, auf desto mehr kann er verzichten.

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