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Songs vom armen B. B.

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Nicht ohne Behagen an Kraftausdrücken und an der Schockwirkung, die jeden Versuch, die bürgerliche Moral zu desavoutieren begleitet, schrieb der aus dem ersten Weltkrieg ins zivile Leben zurückkehrende Fabrikantensohn Bertolt Brecht sein erstes Stück „Baal“. Aus dem gleichen Jahr stammen die programmatischen und vielzitierten Verse „Gegen die Verführung“. Etwa ab 1926 begann der extreme Individualist und Einzelgänger sich mit Marx und Engels zu beschäftigen. Seit der „Dreigroschenoper“ von 1928 arbeitete er mit dem Komponisten Kurt Weill zusammen. Das Ballett mit Gesang „Die sieben Todsünden“ war ihr letztes gemeinsames Werk. Weill wandte sich in den USA einträglicheren Geschäften als dem Klassenkampf zu, Brecht fand in Hanns Eisler und Paul Dessau neue Mitarbeiter. Der „arme B. B.“, wie er sich selbst gelegentlich nannte, wurde zum „Stückeschreiber“ untragischer, antimetaphysischer, nichtaristotelischer Dramen.

Im Exil schrieb er jene Stücke, die heute am meisten aufgeführt werden („Der gute Mensch von Sezuan“, „Mutter Courage“, „Herr Puntila und sein Knecht“, „Galilei“ und andere) und die er „Parabelstücke“ nannte. Ihr epischer Charakter bedingt die zahlreichen musikalischen Einlagen: Lieder, Songs, Chansons und Balladen. Nach seiner Rückkehr in die „DDR“ begann eine Zeit des totalen Konformismus (wenigstens nach außen hin), während welcher Brecht als Dichter verstummte und sich mit praktischen und theoretischen Theaterarbeiten beschäftigte. Seine Lieder, deren Texte kaum noch „real“ sind, weil ihre Sozialkritik ins Leere trifft und ihr Gehalt durch Keßheit der Musik und des Vortrags ersetzt werden muß, haben an künstlerischer Wirkung und Durchschlagskraft kaum etwas eingebüßt, zumal, wenn sie so gekonnt und verführerisch dargeboten werden, wie von Vera Oelschlegel, einer jungen Leipzigerin, die als Filmelevin begann und heute zu den besten Brecht-Interpretinnen zählt. Sie wurde begleitet von einem kleinen Ensemble aus Mitgliedern des Leipziger Rundfunkorchesters, sechs sorgfältig in Grau gekleidete Herren, die wie Bankbeamte aussahen.

Der von der Konzertdirektion Artia veranstaltete Abend fand im Festsaal des Gewerkschaftshauses in der Treitlstraße statt und war hauptsächlich von jungen Leuten besucht. Was sie sich bei all dem wohl gedacht und was sie gefühlt haben mögen? Für die wenigen älteren Besucher waren es Reminiszenzen und Wiederbegegnung mit einem gefährlichen Verführer.

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