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Der Terrortraum mit Logik

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Vor kurzem ist Orson Welles, wohl der genialischeste Regisseur in der Geschichte des Films, schon zu Lebzeiten unsterblich, 60 Jahre alt geworden. In der ganzen Welt des Films wurde er gefeiert wie kaum ein zweiter; Welles braucht keine Reklame, keine Würdigung — er ist bereits ein Begriff. Mit den nachfolgenden Ausführungen sei ihm kleine Huldigung und Gratulation dargebracht____

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Vor kurzem ist Orson Welles, wohl der genialischeste Regisseur in der Geschichte des Films, schon zu Lebzeiten unsterblich, 60 Jahre alt geworden. In der ganzen Welt des Films wurde er gefeiert wie kaum ein zweiter; Welles braucht keine Reklame, keine Würdigung — er ist bereits ein Begriff. Mit den nachfolgenden Ausführungen sei ihm kleine Huldigung und Gratulation dargebracht____

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George Orson Welles wurde im Mai 1915 in Kenosha, Wisconsin, USA, als zweiter Sohn des wohlhabenden Erfinders Richard Head Welles und dessen Ehefrau Beatrice Ives, einer Pianistin, geboren. Beide Kinder waren bemerkenswert frühreif — und die große Schauspielerin Agnes Moorehead erzählte einmal, wie stark sie von dem kleinen Orson beeindruckt war, als sie ihn im Alter

Am 30. Oktober 1938 brachte es Orson Welles zur Weltberühmtheit: an diesem Abend wurde in New York ein Hörspiel gesendet, das durch seine unerhört realistische Gestaltung die ganze Ostküste der Vereinigten Staaten in Panik versetzte. Welles' Version von H. G. Wells „The War of the Worlds“ („Der Krieg der Welten“), die Vision eines Angriffs von Marsbewohnern auf unsere Erde, war ein geschichtliches Ereignis.

1939 unterzeichnete Welles dann — nachdem er zahlreiche andere Hollywood-Angebote, die ihm nicht genügend künstlerische und finanzielle Freiheit zusagten, abgelehnt hatte — mit der RKO Radio Pictures einen Vertrag; aus dieser Zeit stammt sein berühmter Ausspruch, der gültig

über allem, was mit Film zusammenhängt, stehen könnte — und der für alle, die sich irgendwie mit Film beschäftigen, unauslöschbar in ihrem Denken eingeprägt sein sollte: „Film is the biggest electric train set as any boy ever had“ (oder frei deutsch übersetzt: „Film ist das schönste Spielzeug, das es je gegeben hat!“). Er studierte alte Filme, besser: Filmgeschichte, in Hollywood und im

der Arbeit zu „Citizen Kane“, dem Film, den viele Filmhistoriker, Kritiker und Fachleute als „den besten“ bezeichnen, der jemals gedreht wurde... ...

Hier ist nicht der Platz, sich so ausführlich mit diesem klassischen Meisterwerk zu beschäftigen, das in Form eines genialen Puzzlespiels das Leben und den Charakter, die Wünsche eines übergroßen Menschen aufzeigt. Es gab viele Schwierigkeiten für Welles, da sich William Ran-dolph Hearst, Magnat und Zeitungskönig, in der Gestalt des „Citizen Kane“ getroffen fühlte — und so setzte eine so gewaltige Kampagne gegen Welles ein, daß sie eigentlich sein Leben veränderte. Wenn auch viele andere Gründe mitspielten, Welles' geniale Zügellosigkeit, Maßlosigkeit und diktatorischer Wille, so trug doch Hearst's Haß in enormem Maße dazu bei, daß Welles nie mehr die Möglichkeiten erhielt wie bei seinem ersten Film: nie mehr wieder konnte er ohne Kontrolle, in voller Freiheit einen Film vollenden — und nie mehr gelang es ihm, etwas so Vollendetes und Meisterhaftes zu schaffen wie „Citizen Kane“ ...

ifrV'.?' .v“.'' Er teilte fortan mit Erich von Stroheim, dem heute noch in seiner Heimat verkannten zweiten Genie des Films, das Schicksal, unter „Kontrolle“ zu stehen, nur mit Kompromissen arbeiten zu können: sein zweiter Film, „Der Glanz des Hauses Amberson“ (The Magnificent Ambersons), 1942, wurde in der Montage gekürzt, ein dreiteiliger Episodenfilm über Südamerika „It's All True“ verschwand in den Archiven der RKO, sein Spielfilm „Journey into Fear“ mußte von einem anderen Regisseur beendet werden. Dann drehte er noch „The Stranger“, 1946, und „The Lady from Shanghai“, 1948 („Die Lady von Shanghai) — dann verließ Orson Welles Amerika, ein Emigrant ähnlich wie Charles Chaplin — wenn auch weniger aus politischen als künstlerischen Gründen.

In fast allen seiner Filme stellte er überlebensgroße, widersprüchliche Charaktere dar, in denen stets der Konflikt zwischen gut und böse wiederkehrte, der Kampf um die Macht: er verfilmte einen „Macbeth“ (1948), einen „Othello“ (1952), einen gewaltig-dämonischen Waffenhändler Mr. Arkadin („Herr Satan persönlich“, 1955), einen bösen Polizisten in „Touch of Evil“ („Im Zeichen des Bösen“, 1958), einen „Falstaff“, 1966, und den mit Menschen spielenden Mr. Clay in „Une histoire immortelle“, 1968; daß Welles ein Thema wie Kafkas „Der Prozeß“ reizen mußte, ist nur natürlich. Und wieder spielte er mit — und damit kehrte die Grundfigur des „Citizen Kane“ in wechselnder Gestalt auch hier wieder. Orson Welles, der Mann

im Dunkeln, der mit Marionetten spielt, der Große und Mächtige...

Von diesem Ausmaß sind auch alle Figuren, die er als Schauspieler in

seinen zahlreichen Filmrollen verkörpert: er spielte den Cagliostro, Cesare Borgia, Harry Lime in „Der dritte Mann“, Benjamin Franklin, Father Mapple in „Moby Dick“, König Saul in „David und Goliath“, Fulton, Benjamin Franklin, Long John Silver in „Die Schatzinsel“, Louis XVIII., Tiresias, Kaiser Justi-nian und viele andere, ähnliche. Denn so ein großer Künstler auch Orson Welles ist, die Gestalten, die er verkörpert, sind zumeist Titanen und gleichen einander in ihrer Bedeutung oder Schuld, Größe und Maßlosigkeit: es sind stets Menschen, die nicht aus dem Alltag stammen, die hinauswachsen über das durchschnittliche Leben ...

Über Orson Welles sind mehr Artikel und Bücher geschrieben worden, als sie komplett aufzuzählen in diesen Spalten Platz wäre. Sein Werk wurde untersucht, durchleuchtet, analysiert und seziert, seine Aussprüche gesammelt und veröffentlicht — und dennoch, er verstand es immer genial, nicht nur im Mittelpunkt, sondern stets auch irgendwie

im Hintergrund zu stehen, alles beobachtend und überwachend, lenkend

und heimlich lachend. Und dann überrascht er — zumeist mit einem seiner neuen Filme, die leider immer seltener werden. Vielleicht träumt Orson Welles jetzt weniger, da er das sechste Jahrzehnt seines Lebens überschreitet? Wie sagte er doch selbst einmal? „Ein Film ist ein Traum. Ein Traum kann vielleicht vulgär, stupid, schal und ungestalt sein; es kann vielleicht sogar ein Alptraum sein. Aber niemals ist ein Traum eine Illusion...“

Enden wir unsere Gedanken an Orson Welles mit einem Zitat aus einem seiner Filme, einer Geschichte, die zutreffend und typisch ist wie kaum eine andere und alles sagt, was es über Welles zu sagen gibt. In „Confidential Report“ oder „Mr. Arkadin“ sagt er:

„Und jetzt will ich euch von einem Skorpion erzählen. Ein Skorpion wollte einmal einen Bach überqueren und fragte also einen Frosch, ob er ihn übersetzen wolle. ,Nein', sagte der Frosch, ,herzlichen Dank, nein. Wenn ich dich auf meinem Rücken trage, wirst du mich vielleicht stechen, und der Stich eines Skorpions bedeutet sicheren Tod!' ,Aber wo ist da die Logik?', antwortete der Skorpion; .kein Skorpion würde unlogisch handeln: wenn ich dich steche, würdest du sterben — und ich untergehen ... !' So ließ sich der Frosch überzeugen und nahm den Skorpion auf seinen Rücken — aber gerade in der Mitte des Baches spürte er plötzlich einen schrecklichen Schmerz und erkannte, daß trotz allem der Skorpion ihn gestochen hatte. ,Wo bleibt die Logik?' schrie der sterbende Frosch, als er unterging und den Skorpion mit sich in die Tiefe zog, ,das ist doch gegen jede Logik!' ,Ich weiß', antwortete der Skorpion, ,äber ich kann nichts dagegen tun — so ist eben mein Charakter!' Trinken wir auf unseren Charakter!“

Trinken wir auf den Geburtstag von Orson Welles — möge er noch viele erleben und uns viele Träume schenken — und viele solcher Geschichten!

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