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Die Leiden der alten Wörter …

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Es ist wieder einmal soweit: Dem Nachfahren des deutschen Bildungsbürgers, unserem informierten Zeitgenossen, steht ein neues Großlexikon ins Haus: Die Brockhaus Enzyklopädie in 19. Auflage. Mit Goldschnitt selbstverständlich, goldgeprägter Schrift auf dem Lederrücken,

260.000 Stichwörtern und 35.000 Abbildungen im vierfärbigen Druck in 24 rund 700 Seiten starken Bänden, etwa 17.000 Seiten insgesamt, nicht gerechnet Nachträge, Atlas etc. Obwohl Großlexika auch Ballast abwerfen, kommen regelmäßig mehr Stichwörter dazu als abhanden — der neue Brockhaus wird um 10.000 mehr haben als sein 1966 gestarteter Vorgänger.

Als dessen letzter Band 1974 erschien, näherte sich die Konkurrenz mit „Meyers Enzyklopädischem Lexikon“ (Band 1: 1971) der Halbzeit. Meyer und Brockhaus konkurrenzierten einander weit über ein Jahrhundert. Generationenlang zerfiel das Bildungsbürgertum deutscher Zunge in zwei einander scheel beäugende Lager — in Brockhaus- und Meyer-Familien. Brockhaus wurde einst mehr geistes-, Meyer mehr naturwissenschaftlichtechnische Kompetenz nachgesagt.

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wich die Profilierung einer immer stärkeren Angleichung. Seit einigen Jahren sind die Giganten fusioniert.

Schon die klassischen Enzyklo-

pädisten, die von 1751 bis 1780 mit Denis Diderot und Jean le Rond d’ Alembert an deren 35bändigem Standardwerk der französischen Aufklärung arbeiteten, waren ein 200köpfiges Team. An heutigen Großlexika arbeiten rund 1.000 Autoren. Statt den ersten Band der Konkurrenz sofort mit dem Start eines ähnlichen Projekts beantworten zu müssen, soll die Redaktion die Muße haben, vorausschauend neue, deutlich voneinander abgesetzte Typen lexikalischer Wissensspeicher zu konzipieren.

Dem neuen großen Brockhaus wird frühestens Ende des Jahrhunderts der erste Band des nächsten großen Meyer folgen. Damit wird dem „Lexikon-Freak“ die Sorge abgenommen: Wohin mit dem alten Lexikon? Nur Lexika, die einander allzusehr ähneln, bringen ihre Besitzer in Verlegenheit, sie abzustoßen. Lexika repräsentieren nicht nur den Wissensstand, sondern auch das Bewußtsein ihrer Zeit. Daher kann ein neues Lexikon ein (genügend) älteres nie ersetzen, sondern nur ergänzen. Zu den reizvollsten

Schmökererlebnissen zählt das Verfolgen von Stichwörtern durch Lexikon-Generationen.

In „Meyers Enzyklopädischem Lexikon“ gab’s „Lexikalische Stichworte“, in denen persönliche Meinung die vorherrschende keimfreie Sachlichkeit konterkarieren sollte. Tatsächlich schlug unser einstiger FURCHE-Kollege Friedrich Heer unter „Abendland“ um sich, daß es eine Freude war. Leider konnten sich nur wenige Autoren entschließen, so eigenwillige Standpunkte einzunehmen. Der neue große Brockhaus betont „Schlüsselbegriffe“, die der „zeitkritischen Diskussion geöffnet“ werden, und das „zeitgeschichtliche Umfeld, in dem dieser Brockhaus entsteht“, kenntlich machen sollen, durch eine blaue Randlinie. „Abendland“ ist nicht darunter. Schlag nach im Vorgänger 1822: Dort gibt’s gar kein Abendland!

Dafür aber eine „Abstrebekraft“, in der ich zunächst einen Begriff aus der gotischen Bautechnik vermutete — es handelt sich jedoch um „die einem Himmelskörper beigelegte Bestrebung, sich von einem anderen wegzubewegen. Durch den ewigen Kampf der Abstrebe- und Anziehungskraft soll die Kreisbewegung entstehen.“ Die Zentrifugalkraft wird heute physikalisch richtiger, aber sprachlich sicher nicht eleganter definiert.

Es liegen von der neuen „Brockhaus Enzyklopädie“ die ersten beiden Bände vor, „A—APT“ und „APU-BEC“. Um in dieser Gegend des Alphabets zu bleiben: Gehen wir doch einmal der Autorität nach!

Kein Wort darüber in Johann Heinrich Zedlers Großem Vollständigen Universal-Lexikon von 1735, keines bei Brockhaus 1822! Was sagt wohl Zedier, wenn er Autorität meint? Er sagt: „Gehorsam ist eine vernünftige Bereitwilligkeit, unsern an sich selbst freyen Willen nach dem Willen des Gesetzgebers einzurichten, weil eben in der Beobachtung derer Gesetze unser Wohl bestehet … Weil nun aber denen Absichten Gottes zuwieder, uns selbst zu regieren, als sind wir solchen Gehorsam denen schuldig, die an Gottes Stadt da sind, als Obrigkeiten, Eltern, Vorgesetzten …“

Autorität im Meyer von 1924: „Ansehen und geistiger Einfluß, der von dem Besitz überlegener Macht oder überragender Einsicht, Fertigkeit und sittlicher Größe ausgeht.“

Brockhaus wird sich heute hüten, uns mit sittlicher Größe zu kommen, die ist nicht „in“, und so schaut die Welt ja auch aus. Aber er formuliert griffiger als Meyer 1971, der Autorität als soziale Relation begriff, „in der Personen und Institutionen eine Führungsoder Vorbildrolle übernehmen und dabei Normen und Ziele bestimmter Gruppenordnungen repräsentieren und durchsetzen, andererseits aber auch von der Zustimmung der einzelnen Gruppenmitglieder abhängig bleiben.“

Brockhaus deklariert heute Autorität als Schlüsselbegriff — und als „soziales Verhältnis, in dem die Macht, der Vorrang oder die Überlegenheit von Personen, Institutionen, Normen oder Kompe-

tenzen als legitim anerkannt werden und diese Anerkennung auf freiem Entschluß oder Einsicht in diese Legitimität beruht. Daraus ergeben sich Loyalität, Vertrauen, sogar Unterordnung und Gehorsam gegenüber den Trägern von Autorität.“ Ein Ruckerl z’ruck zu Meyers „sittlicher Größe“ —oder zu Zedlers „schuldigem Gehorsam“?

Sich an den Definitionen zu reiben, ist nicht das Schlechteste, wozu ein ausführliches Lexikon einlädt. Und der Beckmesser freut sich, wenn Irrtümer verschwinden. Unter dem Stichwort Adel, das Brockhaus 1922 zu einem revolutionären Rundumschlag anregte („ein Rang, der vor dem Verdienste vorher geht, und dieses auch nicht zur nothwendi- gen Folge hat…“, „entbehrliches Trümmerwerk aus der Vorzeit …“) stand im letzten Groß- Meyer fälschlich, die Führung der abgeschafften Adelsprädikate sei in Österreich „unter Strafe gestellt“. Im neuen großen Brockhaus heißt es richtiger, es sei „seit 1933 von einer strengen Einhal-

tung dieses Verbots abgesehen worden“, wenn auch nicht ganz richtig, daß es sich seit je um eine lex imperfecta (ein Gesetz ohne Strafrahmen) handelt.

Überhaupt werden nun, so scheint es, österreichische Belange sorgfältiger wahrgenommen. Während sich der große Meyer dem österreichischen Maler Kurt Absolon (1925—1958) standhaft verweigerte, kommt er bei Brockhaus endlich vor. Die Wendung „in der Tradition W. Thönys …“ läßt hoffen, daß auch Wilhelm Thöny unter T endlich adäquat, also mit mindestens einer Abbildung, gewürdigt wird.

Brockhaus ist ein seriös redigiertes, nicht nur informativ, sondern auch reizvoll bebildertes, modernes Lexikon, dessen Benützung Freude macht. Wie der nächste Meyer aussehen wird, weiß noch niemand. Die „objektive“ Information mit der klaren „Position“ auf einen Nenner zu bringen, ist noch keinem gelungen.

Was schrieben frühere Lexika — etwa über Demokratie? Brockhaus 1822: „Die Demokratie finden wir als herrschende Form der alten Zeit, und vorzüglich kleinern Staaten angemessen… In der neuern Zeit gediehen die Demokratien nicht.“ Und Meyer 1903(!): „Im europäischen Staatsleben ist der monarchische Gedanke zu fest gewurzelt, als daß Demokratie hier auf die Dauer Boden gewinnen könnte.“

Welche heutigen Lexikon-Artikel werden unsere Enkel mit ähnlichen Gefühlen lesen wie wir heute diese?

BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE. Grund- werk: 24 Bände, erscheinend im Abstand von vier Monaten. F.A. Brockhaus, Mannheim. Halbleder, Subskriptionspreis öS 1.287,— pro Band.

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