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Meyers Zwischenbilanz

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Die Edition vielbändiger Großlexika ist ein langatmiges Unternehmen. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, vor genau vier Jahren an dieser Stelle ausführlich vorgestellt (FURCHE 14/1972), ist bei Etienne Nicolas Mehul, einem weitgehend vergessenen Komponisten des ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts, und damit bereits tief in seiner zweiten Halbzeit angelangt. Zeit, festzustellen, wie der 15. Band hält, was der erste versprach.

Ersparen wir uns die übliche Stichwörter-Läuseklauberei und merken wir lediglich an, daß der frühverstorbene österreichische Künstler Absolon lexikalischer Erwähnung sehr wohl würdig gewesen wäre (was bisher auch in keinem der Nachträge erfolgte), das Fehlen eines Artikels über einen so zentralen marxistischen Begriff wie Entfremdung schwer zu verstehen ist und die Benützung des Werkes leichter wäre, hätte man jene Bände, die Nachträge enthalten, außen gekennzeichnet.

Wichtig ist die Gesamtbeurteilung, die sich bei ausgedehnten Streifzügen durch einen solchen Informationskosmos als Resultante ergibt, zumal sich über die Ausstattung nach dem vor vier Jahren Gesagten jedes weitere Wort erübrigt — der Große Meyer blieb auch ästhetisch ein Meisterwerk seiner Gattung.

Besondere Sorgfalt auf allen naturwissenschaftlichen und technischen Gebieten ist spätestens seit der 6. Auflage (sie erschien knapp nach der Jahrhundertwende, vorliegend ist die neunte) eine Meyer-Tradition, was alle vorwiegend in dieser Richtung interessierten Benutzer wissen. Möglicherweise verdankt die Redak-

tion gerade diesem Umstand jenen Spielraum in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen, der den neuesten Meyer zu einem recht interessanten Indikator der geistigen Strömungen unserer Zeit zumindest im deutschen Sprachraum macht.

Er vollzieht, noch tastend, den Schritt zu einem neuen lexikalischen Typus. Es ist ein Schritt zurück ins achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert, was aber keinen Rückschritt bedeutet. Denn gerade die frühen Enzyklopädisten waren alles andere als Puristen jener angeblich wertfreien Objektivität, hinter der sich später so viel bürgerliche Staatsbravheit verbarg. Sie hatten eine Meinung und schrieben, um ein Beispiel zu nennen, selbst noch den Brockhaus der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit einem polemischen Temperament, wie es uns unter den Autoren des Großen Meyer heute nur noch bei Friedrich Heer in seinem Artikel über das „Abendland“ begegnet.

Aber Information und Meinung stehen seit je in einem dialektischen Verhältnis. Meinung setzt Information voraus. Die Quantität der Information schlägt in die Qualität der Meinung um. Gerade die mit den Namen der Verfasser versehenen Essays zu wichtigen naturwissenschaftlichen Fragen zeigen das einmal mehr.

Jedes Lexikon hat eine Doppelfunktion. Jedes Lexikon enthält nicht nur die vielgerühmten objektiven Fakten und unterscheidet sich von seinem Vorgänger durch weggelassene und neu aufgenommene Tatsachen. Es spiegelt auch die politischen und gesellschaftlichen Urteile und Vorurteile seiner Entstehungszeit, kurz deren Bewußtsein.

Den Zeitgenossen sagt es nicht nur, was ist, sondern auch, was en vogue ist, und genau dies wollen sie ja auch wissen. Auch Meyers 9. Auflage orientiert sich in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern an der Erwartungshaltung der Schichten, von denen es gekauft wird oder gekauft werden soll, und sucht die Äquidistanz zwischen Links und Rechts daher folgerichtig etwas links von der Mitte. War die 6. Auflage das Lexikon eines Bürgertums, das in der Abwehrstellung gegenüber dem nachdrängenden Proletariat seinen Frieden mit den feudalistischen Kräften gemacht hatte, war die 7. Auflage noch mühsam und nicht immer erfolgreich um Äquidistanz zwischen nationalem Konservativisr mus und damaligen linken und rechten Kräften bemüht, so ist die nunmehrige 9. Auflage das Nachschlagewerk jener, deren große Mehrheit vor allem informiert, und erst dann gebildet, und wenn gebildet, dann keineswegs dem Bürgertum und schon gar nicht dem Bildungsbürgertum zugeordnet sein will. Offenbar ist heute Allgemeinbildung der Gesellschaft zumindest ein schlechtes Gewissen schuldig, war doch die Bildung des Bildungsbürgertums, nicht laut Meyer, sondern dem von Hartfiel im Alleingang verfaßten „Soziologischen Lexikon“ zufolge, innerer Zufluchtsort vor einer als unabänderlich empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, was die Frage nahelegt, wann der Begriff „Freizeit“ sein eskapistisches Etikett aufgeklebt bekommt.

Meyers interessantes neues Element sind die mit Namen gezeichneten Artikel zu wichtigen Themen. Hier bahnt sich ein Weg an, kontro-versielle Dinge, eventuell von divergierenden Standpunkten dargestellt, in den lexikalischen Griff zu bekommen. In der vorliegenden Auflage freilich wird dieses Instrument noch viel zu vorsichtig und zurückhaltend eingesetzt. Heers „Abend-land“-Artikel im ersten Band in seiner einseitigen, aber erfrischenden Polemik blieb allein auf weiter Flur — leider. Bisher liegen 53 dieser Beiträge vor, 50 davon wurden sogar in einem noblen Sonderdruck vereinigt („Forum heute“), wobei sich trotz photomechanischer Herstellung doch ein Weg hätte finden lassen sollen, das im Aufsatz von Robert Jungk über „Energie — Krise und Wende“ von einem zweifellos originellen Druckfehler kreierte Element „Pla-tonium“ ins fadere, aber korrekte „Plutonium“ rückzutransmutieren.

Der Wert dieser Aufsätze ist äußerst heterogen, einige hätte man sich sparen können, wichtige Themen, die nach einer Behandlung von einem persönlichen Standpunkt aus geschrien hätten, wurden dessen nicht für würdig befunden. Kein Essay zum Thema Antisemitismus, keiner über Humanismus oder Humanität, nicht einmal einer über den Kolonialismus, dafür mittlerweile gründlich Überholtes über die Berlinfrage von Joachim Nawrocki, Überholtes und zudem im Unterton nicht sehr Humanes über Afrika von Imanuel Geiss, und, man greift sich an den Kopf, unter dem Stichwort „Dramaturgie“ ein Aufsatz von Günther Rennert über „Dramaturgie und Regie der Oper“ (wahrscheinlich wird unter O der Rest, nämlich die Dramaturgie des Theaters, nachgereicht).

Die Naturwissenschaftler schlagen ihre Kollegen von den schwerer nachprüfbaren Disziplinen oft auch in der stilistischen Verve. Otto Heckmann („Astronomie“), Werner Heisenberg („Der Begriff der kleinsten Teilchen in der Entwicklung der Naturwissenschaft“), und allen voran Adolf Portmann („Der Mensch im Felde der Evolutionstheorie“), beweisen mit ihrer sachlichen und stilistischen Autorität, daß über ein Fachgebiet nach wie vor niemand besser schreiben kann als ein Fachmann, der schreiben kann. Eher lustig wird es, wenn ein Mann wie Arnold Gehlen — erfrischend über Sartre, kurz und knapp über Heidegger —, weil er für ein Lexikon schreibt und sich daher zur Attitüde der Objektivität verpflichtet fühlt,

plötzlich von sich selber in der dritten Person zu reden beginnt.

Auf verschiedene Weise, in den Naturwissenschaften durch den Nachvollzug eines ungeheuren Informationsmaterials, in den Geisteswissenschaften durch die offensichtliche Suche nach neuen Fixpunkten, informiert dieses Lexikon darüber, was ist — und darüber, worüber man heute, bündig und objektiv, offenbar nicht sprechen kann. Eine um so wertvollere Orientierungshilfe sind die äußerst aktuellen Literaturhinweise. Alles in allem: Ein großes Lexikon, nicht nur dem Umfange nach, verläßlich in der Information, ästhetisch in der Aufmachung, hervorragend illustriert, und anregend auch dort, wo es -den kritischen Benutzer zum Widerspruch reizt. Und in Relation zur heutigen Kaufkraft billiger als irgendein vergleichbares Nachschlagewerk vergangener Zeiten“.

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON IN 25 BÄNDEN. Bibliographisches Institut, Mannheim-Wien-Zürich. Halbleder, Goldschnitt, pro Band öS 839.30.

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