7127473-1997_10_21.jpg
Digital In Arbeit

Neuer Brockhaus in zwei Jahren: Generationswechsel vorgezogen

Werbung
Werbung
Werbung

Und wieder ist eine neue Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden da, besser: im Entstehen. Auf daß man die sehr ähnlichen Bücken der Bände unterscheiden könne, heißtsie: „Die Enzyklopädie”. Die Ähnlichkeit ist gewollt. Denn die 19. und die 20. Auflage sind einander ähnlicher als sonst. Auch der zeitliche Abstand ist geringer. Band 24 der Vorgängerin erschien erst 1994.

Nun liegt bereits der dritte Band der neuen vor, die in Bekordzeit (bis Ende 1998) fertig sein soll.

Eine mächtige Autorität hat die baldige Überarbeitung nötig gemacht. Ihr Name ist Weltgeschichte. Seit 1989 hat sich soviel geändert, daß die noch junge 19. Auflage schneller als jede andere etwas alt aussah. Die Aktualisierung des laut Verlag erfolgreichsten Brockhaus in der fast 190jährigen Geschichte des Hauses war fällig. Auch die Orthographie ist durchgehend die (freilich von vielen mit guten Gründen ungeliebte) neue.

Der vorgezogene Generationswechsel bedingt, daß es sich um keine gänzlich neue Auflage handelt. Bund 20 Prozent des Textumfanges sind neu, doch auf diese 20 Prozent kommt es an. Denken wir nur an Stichwörter wie Aids, Abfall Wirtschaft, Gentechnik oder Internet.

Trotzdem ist für einen großen Teil der Benutzer die ältere Ausgabe eigentlich kaum entwertet. Das gilt nicht nur für unverbesserliche Humanisten, sondern auch für alle, die sich über naturwissenschaftliche Themen sowieso nicht anhand der naturgemäß langlebigen Enzyklopädie (400 Jahre soll das Papier halten), sondern der aktuellen Literatur auf dem laufenden halten.

Sowieso entwerten alte Lexika die neuen nur teilweise. Was man schon am respektablen Antiquariatswert alter Lexika erkennt. Ihr Wert ist nicht nur ein bibliophiler, sondern auch ein praktischer: Der neuen Aktualität fällt immerein Teil der alten zum Opfer. Im konkreten Fall kommen durchschnittlich 300 Stichwörter pro Band dazu und 220 fallen weg. Darunter sind immer auch Persönlichkeiten. Das Verbleiben eines Künstlers im Lexikon ist durchaus ein Beleg für seine Wirkung über den Tod hinaus. Daß etwa der frühverstorbene Österreicher Kurt Absolon lang brauchte, um in den Brockhaus zu kommen, nun aber drin bleibt, ist erfreulich.

Historisch Interessierte schlagen aus diesen Gründen sehr oft ein Thema in mehreren älteren Lexika nach. Auch repräsentiert jedes Lexikon nicht nur den Wissensstand, sondern auch das Bewußtsein seiner Zeit. Weshalb es zu den reizvollsten Schmökerabenteuern gehört, ein Stichwort von einer Lexikon-Generation zur anderen zu verfolgen.

Das simple Wort „abstreben” zum Beispiel ist im neuen Brockhaus zwei Zeilen wert: Bauteile mit Streben gegen schräge oder waagerechte Kräfte sichern. Im Brockhaus von 1822 war „Abstrebekraft” die „einem Himmelskörper beigelegte Bestrebung, sich von einem anderen wegzubewegen. Durch den ewigen Kampf der Äbstrebe- und Anziehungskraft soll die Kreisbewegung entstehen.” Die Zentrifugalkraft wird heute physikalisch gewiß korrekter, aber sprachlich kaum eleganter definiert.

Und erst die politisch virulenten und ideologisch besetzten Begriffe! Schauen wir doch gleich einmal nach unter Autorität: „Der als rechtmäßig akzeptierte Einfluss einer Person, einer Gruppe oder einer Institution, aber auch von Auffassungen und Lehren sowie deren Bepräsentanten ...” und so weiter.

In der 19. Auflage war Autorität noch ein Schlüsselbegriff. Jetzt ist sie keiner mehr. In der 19. Auflage wurde aber Autorität doch auch um eine Nuance anders gesehen, nämlich als „soziales Verhältnis, in dem die Macht, der Vorrang oder die Überlegenheit von Personen, Institutionen, Normen oder Kompetenzen als legitim anerkannt werden und diese Anerkennung auf freiem Entschluß oder

Einsicht in diese Legitimität beruht

Nichts über Autorität im Brockhaus von 1822, nichts in „Johann Heinrich Zedlers Großem vollständigen Universal-Lexikon” von 1735. Hier müssen wir schon unter Gehorsam nachschlagen! Dort werden wir belehrt, noch läßt die Aufklärung nicht grüßen: „Gehorsam ist eine vernünftige Bereitschaft, unsern an sich selbst freyen Willen nach dem Willen des Gesetzgebers einzurichten, weil eben in der Beobachtung derer Gesetze unser Wohl bestehet... Weil nun aber denen Absichten Gottes zuwie-der, uns selbst zu regieren, als sind wir solchen Gehorsam denen schuldig, die an Gottes Stadt da sind, als Obrigkeiten, Eltern, Vorgesetzten ...”

Flucht ins 20. Jahrhundert! Den Meyer von 1924 aufgeschlagen! Da steht zu Autorität: „Ansehen und geistiger Einfluß, der von dem Besitz überlegener Macht oder überragender Einsicht, Fertigkeit und sittlicher Größe ausgeht.”

War das nun näher am Zedier oder näher am heutigen Brockhaus? „Sittliche Größe” ist nicht mehr in, sie ist als Begriff sogar sehr out - ob das als Symptom für den Abbau ethischer Normen oder als Schritt zu mehr Ehrlichkeit zu werten sei, muß jeder für sich entscheiden.

Zu den Schlüsselbegriffen des ersten Bandes (A bis AP): In der 20. Auflage heißen sie Abfallwirtschaft, Abrüstung, Aggressivität, Agrarpolitik, Aids, Allergie, Altern, Angst.

Die Entwicklung der Enzyklopädie in den letzten 250 Jahren kann auch als eine Bewegung vom Engagement und von der mit Stellungnahme verbundenen Information hin zur keimfreien Wissensvermittlung gesehen werden. Dieser Prozeß wurde erst in den letzten Jahrzehnten definitiv abgeschlossen. Was viel mit dem Mündigwerden des Bürgers zu tun hat, aber ein bißchen vielleicht doch auch mit der Verschleierung der Machtverhältnisse.

Generationenlang war das deutsch -sprachige Bildungsbürgertum geradezu gespalten in Meyer-Familien und Brockhaus-Familien. Meyer hatte eher das Image naturwissenschaftlich-technischer, Brockhaus das der geisteswissenschaftlichen Kompetenz. Meyers Enzyklopädischem Lexikon der siebziger Jahre wagte noch einmal einen vorsichtigen Schritt zum Engagement und bat die Autoren der damaligen Schlüsselbegriffe, sie hießen „Enzyklopädische Stichworte”, um deklarierte Meinung.

Damals schlug der einstige FlJR-che-Bedakteur Friedrich Heer unter „Abendland” auf eine Weise um sich, daß es für manchen eine Freude, für manchen aber auch ein Schock war. Er blieb damit freilich ziemlich allein auf weiter Flur.

Die Häuser Brockhaus und Meyer wurden bekanntlich 1984 fusioniert. Nachschlagewerke und kleinere allgemeine Lexika wird es unter dem Namen Meyer weiter geben, die große Enzyklopädie nicht mehr. Angesichts des gigantischen Aufwandes wäre eine solche Zweigeleisigkeit nicht mehr möglich und auch nicht mehr sinnvoll.

Mit 100.000 Exemplaren setzt man heute die Deckungsauflage einer großen Enzyklopädie an - darunter werden rote Zahlen geschrieben. Die tatsächlich erzielten Auflagen werden streng geheimgehalten.

Heute zählt das Abendland zu den keimfrei konservierten Begriffen.

Auch der Adel. Wie eben alles. Aber auch unter „Adel” lassen sich reizvolle Entdeckungen machen. Unter diesem Stichwort stand im Brockhaus von 1822: „Ein Bang, der vor dem Verdienste vorhergeht, und dieses auch nicht nur nothwendigen Folge hat”. Von „entbehrlichemTrümmerwerk der Geschichte” war auch die Rede. Andererseits las man noch 1903 im Meyer über die Demokratie: „Im europäischen Staatsleben ist der monarchische Gedanke zu fest gewurzelt, als daß Demokratie hier auf die Dauer Boden gewinnen könnte.” Unsere Enkel werden so manche, was heute in Lexika steht, mit ähnlichen Gefühlen lesen, wie wir diese Sätze.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung