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Handke gleich Euripides ?

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Die politische Alphabetisierung Deutschlands, wie sie Hans Magnus Enzensberger von den deutschen Schriftstellern fordert, wird vom neuen „Literatur- Brockhaus“ so weit wie möglich vorangetrieben. Das zeigt sich bereits beim ersten Durchblättern: Das Porträt jener Autoren, die aus der Tagespresse und den Journalen bekannt sind, begrüßt

potentielle Käufer mit dem Aha- Erlebnis des Wiedererkennens und der Gewißheit, daß in diesem Werk die Allwissenheit des Lexikons auf den neuesten Stand gebracht ist. Zufolge solcher Aktualität beansprucht Peter Handke ungefähr ebenso viele Zeilen wie Euripides.

Billigen wir dem Herausgeberteam unter Werner Habicht und Wolf-Dieter Lange zu, daß es ungeheuer schwierig ist, die Weltliteratur in drei Bänden zu je etwa 800 Seiten unterzubringen, ohne dabei Gestalten und Begriffe zu

pressen wie in einem vergilbenden Herbarium. Gerade deshalb aber, weil der zur Verfügung stehende Raum so kostbar ist, verlangt jeder Beitrag vom Fachmann ein Lavieren zwischen banalisierender, den Sachverhalt verkürzender Pflicht zur Verständlichkeit und Verantwortung des Wissenschaftlers, der die Probleme in ihrer Differenziertheit aufzuzeigen hat. Daß diese Aufgabe, soweit sie den literaturtheoretischen Teil betrifft, gut, ja glänzend gelöst worden ist, macht den Wert des „Literatur-Brockhaus“ aus, der auch vor der „In- tertextualität“ als Stichwort nicht zurückschreckt.

Die Literaturkritik bewegt sich allerdings nicht immer auf gleicher Höhe. In den wenigen Zeilen, die Christine Busta gewidmet sind, lesen wir aktuelle Le

bensprobleme, wobei sie die . Schöpfungsgeschichte als Ausgangspunkt für die Kritik an der heutigen Welt, die vom Menschen gefährdet ist, nimmt.“ Kann man mit solchen Gemeinplätzen und deren simplifizierenden Zuschreibungen — „Vom Menschen gefährdet“, .Aktuelle Lebensprobleme“ — an die Geheimzeichen Bustas in „Lampe und Delphin“ heranführen? Bei Autoren, die der Tradition verpflichtet und ohne Zugeständnis an den Zeitgeschmack ihrem persönlichen Stil gefolgt sind (wie zum Beispiel Herbert Eisenreich), hat man sich die Formulierungen zu leicht gemacht. Im Falle Friedrich Georg Jüngers kommt die Klischeehaf- tigkeit des kurzen Textes — beabsichtigt oder nicht - einer Diskriminierung gleich.

Kommt Österreichs Literatur,

so weit sie nicht in bundesdeutschen Verlagen erschienen ist, nicht doch zu kurz? Von den unbeachtet gebliebenen Autoren seien nur einige wenige erwähnt: Friedrich Heer, Jörg Mauthe, Hermann Friedl, Johannes Lindner. Aber auch bei jenen, die aufgenommen sind, findet statt, was der Amerikaner Herb Garden .Abtreibung am anderen Ende“ nennt: Einem Fritz Hochwälder oder einem Alexander Lernet- Holenia werden nur wenige Zeilen gegönnt.

Ein zusätzlicher Kritikpunkt betreffend die österreichische Literatur besteht darin, daß bedeutende Autoren weder im Abschnitt „österreichische Literatur“ aufscheinen noch bei ihrer Namensnennung innerhalb des Registers als österreichisch gekennzeichnet sind. Es heißt, das

integrale Wesen der österreichischen Literatur vollkommen zu verkennen, wollte man Zuordnungen des „Literatur-Brockhaus“, Milo Dor sei ein serbischer, György Sebestyėn ein ungarischer Autor, unwidersprochen hinnehmen. Hätte der verantwortliche Experte Sebestyėns großen Roman „Die Werke der Einsamkeit“ gelesen, müßte ihm aufgefallen sein, wie sehr — abgesehen vom Österreichporträt in Personen und Landschaften - auch der Verzicht auf ideologisch dezidierte Aussagen just dem entspricht, was als österreichisches Spezifikum bezeichnet wird.

Es ist bedauerlich, daß ein Werk, dessen Bebilderung und dokumentarisches Material interessant und vielseitig gestaltet sind und das für viele Jahre die öffentliche Meinung über Literatur mitbestimmen wird, solche gravierende Mängel aufweist. Der Titel hätte zu mehr Ausgewogenheit und Genauigkeit verpflichtet.

DER LITERATUR-BROCKHAUS. Herausgegeben und bearbeitet von Werner Habicht, Wolf-Dieter Lange und der Brockhaus-Redaktion. F. A. Brockhaus, Mannheim. Drei Bände zu je ca. 800 Seiten, geb., öS 3.861,-.

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