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Peymann statt Goethe

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„Goethe“ - so heißt es in einem „Info-Paper“ eines nordwestdeutschen Gymnasiums — sei ein „enorm kaputter Typ“ gewesen. Wer Goethes „Iphigenie“ nur in Claus Peymanns Inszenierung kennt, wird vielleicht derselben Meinung sein. Nun ist dieser „linke Theatermacher“ (Selbstdefinition Peymanns) aus der nordwestdeutschen Provinz von Helmut Zilk ans Wiener Burgtheater geholt worden und hat erst kürzlich öffentlich erklärt, die deutschen Klassiker würden nicht mehr gelesen und wären daher unbekannt — würden er und seinesgleichen sie nicht mehr inszenieren.

Die Entwicklung der Literaturgeschichten für unsere Schulen

scheint dies zu bestätigen. Was hat sich hier getan, seit im Staatsvertragsjahr 1955 die heute nicht mehr verwendete „österreichische Dichtung im Rahmen der Weltliteratur“ von Werner Tschu-lik erschienen ist? Sie gab zum ersten und zum letzten Male ein europäisches Konzept „in drei Kreisen. Der erste behandelt die österreichische Dichtung, die ausführlich und in allen bemerkenswerten Vertretern dargestellt wird. Sie wird von der übrigen deutschsprachigen Dichtung umschlossen, die weniger eingehend behandelt ist. Und als äußerster Kreis schließt sich um sie die Dichtung der übrigen Völker unseres Kulturkreises mit ihren bedeutendsten Vertretern.“

Der Europagedanke ist, zumindest in unseren Literaturgeschichten, abgestorben. Die „Einführung in die Literatur des deutschen Sprachraums“ von Herbert Pochlatko-Karl Koweindl betonte zwar weiter die österreichische Dichtung im Rahmen der deutschen, behandelte aber Shakespeare und Tolstoi nur am Rande. Die deutsche Dichtung war freilich so gründlich dargestellt, daß Germanistikstudenten von heute damit ihr Auslangen finden.

Das Werk hatte drei etwa gleichgewichtige Teile: von den Anfängen zum Rokoko, vom Sturm und Drang zum Biedermeier, vom Realismus zur Gegenwart. 1965 wurde diese gehaltreiche Literaturgeschichte für den Unterrichtsgebrauch zugelassen, allerdings nur für berufsbildende Schulen. Warum nicht für Allgemeinbildende Höhere Schulen, die dem Deutschunterricht weitaus mehr Raum geben? Kenner der Schule, die wissen, welche Bedeutung die weltanschauliche Haltung eines Lehrbuchautors für die parteipolitisch zusammengesetzte Gutachterkommission hat, werden die Antwort wissen, auch wenn sie hier verschwiegen wird.

Erst nach langen Bemühungen konnte der Verlag Braumüller erreichen, daß diese ausführlichste aller Literaturgeschichten ab 1973 auch für AHS verwendet werden durfte. Die Freude war kurz. Um die Dichtung früherer Zeiten in das von Peymann bezeichnete Ghetto zu drängen, wurde der „Pochlatko“ gekürzt und umgemodelt, heißt seit 1981 statt „Einführung“ nur „Abriß der Literatur des deutschen Sprachraums“ und hat statt der früheren drei Teile nur mehr zwei: die ersten zwei wurden auf einen — von den Anfängen bis 1848 - zusammengeschnitten. Grillparzer, früher

25 Seiten, hat nun sechs Seiten. Weitere Kürzungen könnten noch kommen, -sollte man entdecken, daß Josef Weinheber — durchaus mit Recht — als einer der „größten Lyriker Österreichs“ bezeichnet wird.

Mißliebig könnte den Peymän-nern des Theaters und der Literaturkunde auch die „Geschichte der deutschen Literatur“ von Karl Propst werden (2 Bände, approbiert 1973), würden sie lesen, daß es dort über Bert Brecht heißt: „Während eine begeisterte Gefolgschaft ihn als den größten Dramatiker der Epoche feiert, wird er von anderen mit gleichem emotionalem Aufwand abgelehnt, und zwar nicht nur wegen seiner politischen (kommunistischen) Einstellung.“ Wen seine Ideologie nicht daran hindert, eine solche Aussage als abgewogen und wahrheitsgemäß anzusehen, wird das Buch von Propst als gediegen und anregend empfinden.

Nicht als Literaturgeschichte, sondern als „Literaturkunde“ bezeichnet sich Robert Killingers „Gestalten und Verstehen“, approbiert 1983, nur ein einziger Band von 319 Seiten. Da er auch audiovisuelle Medien behandelt und sich eine auf zehn Seiten zusammengedrängte Poetik leistet, bleiben für die deutsche Dichtung, die bei Killinger nicht mit dem Hildebrandslied, sondern erst vierhundert Jahre später mit dem Nibelungenlied beginnt, noch 270 Seiten. Grillparzer kommt auf fünf Seiten vor, Brecht auf neun.

Shakespeare wird fünfzehnmal genannt, aber nur an einer Stelle behandelt. Genauer gesagt, nicht Shakespeare wird besprochen, sondern die Leichenrede des Mark Anton, und zwar so, daß neben Shakespeares Text die „Analyse rhetorischer Mittel“ durch Robert Killinger steht. Eine Kostprobe gefällig? Shakespeare: „Also Tränen für seine Liebe, Freude für sein Glück. Ehre für seine Tapferkeit und Tod für seine Herrschsucht.“ Dazu Killinger: „Inhaltlich nichts Neues. Statt der verbalen Formulierungen mit 4ch' als Subjekt der Hauptsätze wird die Aussage durch nominale Fügungen in allgemeingültige

Schlagworte umgeprägt. Damit werden der Menge affektgeladene Parolen gegeben.“

Vorläufiger Endpunkt des literaturgeschichtlichen Bildungsgefälles: „Erlebte Literatur“ von Peter Söllinger, approbiert 1984, 340 Seiten, davon für Literaturgeschichte immerhin noch 38 (!) Seiten. Alles übrige verstreute Betrachtungen über dieses und jenes, beispielsweise „Götz von Ber-lichingen“ in Kurzfassung: „Götz von Berlichingen ist ein ganzer Kerl, beseelt von Freiheitsdrang.“ Oder: „Karl und Franz als pubertierende Jugendliche.“ Gemeint sind die Brüder Moor in den „Räubern“, besser gesagt ihre Inszenierung durch Peymann. Dieser setzt—so lernen unsere Kinder — „ein greinendes happy end. Karl und Amalie artikulieren noch stumm weiter, als hätten sie noch Schiller zu sprechen und doch nichts mehr zu sagen.“

Der Autor ist Bundesobmann des parteiunabhängigen Verbandes der Professoren Österreichs (VdPO) und Mitglied des Zentralausschusses für AHS-Lehrer.

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