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Mit 45 Jahren Verspätung erschienen die Vorlesungen über Psychologie, die der damals 28jährige Manes Sperber 1933 veröffentlichen wollte, deren Manuskript verlorenging und nach dem Krieg wiedergefunden, aber vom Autor beiseitegelegt wurde und die heute vor allem aus zwei Gründen faszinieren.

Erstens durch die Radikalität, mit der Sperber der Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft auf den Grund geht, mit der er sie vom Ausgangspunkt, und das heißt von der Kindheit her untersucht, und mit der er sich einerseits der Doktrin von der gesellschaftlichen Bedingtheit allen menschlichen Seins hingibt und andererseits jeder Tendenz widersetzt, den Blickwinkel auf diese Bedingtheit einzuengen und die Kategorie der individuellen Freiheit zu opfern.

Zweitens, weil man in diesen vor Hitlers Machtergreifung am Berliner Individualpsychologischen Institut gehaltenen Vorlesungen psychologisches Denken im Spannungsfeld zwischen Freud, Alfred Adler und Marx in statu nascendi beobachten kann.

„Individuum und Gemeinschaft“ von Manes Sperber besticht durch den Zukunftsglauben des jungen Sperber, durch das Vertrauen dieses Denkers in die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums, vor allem aber dadurch, daß sich hier die Resultate des Denkens noch nicht vom zu ihnen führenden Denken abgelöst haben, was bei einem so scharfen Analytiker einen hohen Grad von Nachprüfbarkeit bedeutet

Eine „ironische Überlegung“ hat Sperber zur späteren Veröffentlichung veranlaßt: „Jene, die etwa in den sechziger Jahren stürmische Revolutionäre gewesen sind, und jene, die es jetzt sein wollen, sollen merken, daß sie keine Avantgarde, sondern ein Nachtrupp waren und es heute noch sind. Und daß sie uns im wildesten Getümmel mit großer Verspätung auf unseren Holzwegen nachlaufen, aber uns selten auf den Pfaden der Forschung folgen.“

Was die Holzwege betrifft: Im Dilemma zwischen Veränderungswillen und der Erkenntnis, daß die Familie bestehende Verhältnisse stabüisiert, geriet der junge Sperber mit der Institution der Familie in Konflikt. Seine Ausgangsposition war streng rationalistisch. Aber er erlag einem neuen Irrationalismus, als er annahm, es genüge, die Menschen durch die Weltrevolution zu befreien und die den Zustand der Gesellschaft stabilisierenden Institutionen zu beseitigen - Die Menschen würden die Entwicklung dann schon in der gewünschten Richtung vorantreiben.

Sperbers Irrationalismus war der Irrationalismus einer Generation, die von der Weltgeschichte geheilt entlassen wurde - geheilt nicht nur von ihren Illusionen, sondern auch von ihrem Optimismus.

INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT - VERSUCH EINER SOZIALEN CHARAKTEROLOGIE. Von Manes Sperber. „Konzepte der Humanwissenschaften“, Klett Cotta Verlag, Stuttgart 1978. 326 Seiten, öS 221,20.

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