6666946-1960_39_11.jpg
Digital In Arbeit

Zwei tapfere Verlierer

19451960198020002020

DIE ACHILLESFERSE. Essays. Von Manes Sperber. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 257 Seiten. Preis 15.80 DM. - DIE BLAUE BLUME DES WANDERVOGELS. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung. Sigbert-Mohn-Verlag, Gütersloh. 407 Seiten. Preis 14.80 DM.

19451960198020002020

DIE ACHILLESFERSE. Essays. Von Manes Sperber. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 257 Seiten. Preis 15.80 DM. - DIE BLAUE BLUME DES WANDERVOGELS. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung. Sigbert-Mohn-Verlag, Gütersloh. 407 Seiten. Preis 14.80 DM.

Werbung
Werbung
Werbung

„Ihr habt die Pferde zuschanden geritten, aber den Himmel habt ihr nicht geleert, ihr habt ihn nur als Quartier vorbereitet für die Hitler, Stalin e tutti quanti. Ist es das, was ihr gewollt habt?“

„Nein!“

„Das heißt also, daß ihr jämmerlich versagt habt, daß ihr vollkommen gescheitert seid, obwohl ihr euch heute im Lager der Sieger befindet!“

„Ja.“

Der diesen Dialog schreibt, Manes Sperber in seinem Essayband „Die Achillesferse“ (S. 27), gehört zu den saubersten, bis zur Verzweiflung ehrlichen Intellektuellen unserer Tage. Man hat den österreichischen Juden, dem Paris heute zur zweiten Sprachheimat geworden ist, unter dem Sammelbegriff „heimatlose Linke“ etikettieren wollen. Dies scheint uns nicht nur im Hinblick auf ein immer bunteres Heerlager neuer und neuest „Bekehrter“ heute bereits wenig Kompliment zu bedeuten. Es trifft auch für die Originalität Sperbers nicht zu. Der ehemalige Schüler Alfred Adlers besitzt nämlich die seltene Fähigkeit, auch den eigenen, gemeinhin „links“ genannten Standpunkt kritisch, ja erbarmungslos analysieren zu können, und er besitzt zugleich die Voltairesche Generosität, dennoch leidenschaftlich an ihm festzuhalten, besonders dann, wen sich seine Bekenner auf dem Rückzug oder in der Niederlage befinden. Der einleitende Essay des Bandes, zugleich die Schattenrißsammlung eines einmaligen und doch für eine bestimmte Generation so oder so typischen Lebenslaufs von den Jugendjahren der Opposition gegen den dynastischen Patriotismus des „edel lehrenden“ Gymnasialprofessors bis zur Wiederbegegnung mit diesem sich selbst Gleichgebliebenen nach 1945, enthält die vorstehend zitierte Dialogstelle. Der mit „Nein“ und „Ja“ das Fazit erstellende Partner des provokanten Fragers ist Manes Sperber selbst, in der Uniform einer der Siegermächte von damals. Ort der Handlung aber ist Wien. Nichts Geringeres ist hier ausgesprochen als ein Fragezeichen gegenüber einer Generation, die etwas voreilig und kurzsichtig den Zusammenbruch des Hitlerregimes als eine geistige Bestätigung ihres eigenen Ideals auffaßte. Die Nachfahrin der Aufklärung, die große europäische Linke des vergangenen 19. und begonnenen 20. Jahrhunderts, stellt sich der Frage einer neuen Ordnung, die sie selbst mit allen Konsequenzen heraufgeführt hat. Und Manes Sperber erkennt, daß das „Siehe und es war gut“ von 1945 nicht stimmt. Nicht nur deswegen nicht stimmt, weil die Verwirklichung immer hinter dem Ideal zurückbleibt, sondern weil die Konstruktionsfehler bereits im Entwurf lagen und nun nur noch um den Preis der nihilistischen Sprengung des ganzen Gebäudes zu beseitigen wären. Das Bewußtsein der inneren Fragwürdigkeit aber führt ihn nicht zur resignierten Preisgabe. Er kämpft den einmal begonnenen guten Kampf weiter, ohne die Illusion des Sieges, ohne die Hoffnung auf die Note „Vorzüglich“ bei der ideengeschichtlichen Schlußzensur,. (Er ist auch ein zu frommer lüde, um sich nach dem wohlwollenden Kopfnicken des Hegeischen Geschichtsgottes zu sehnen. Sein Gott ist und bleibt der des Buches Hiob.) Aber er nennt den alten, nicht geschlagenen, von „links“ her vielleicht auch nie schlagbaren Feind auch heute beim Namen, wenn er von der „polizistischen“ Geschichtsauffassung spricht, von den vielfältigen Verlockungen und Erpressungen der Tyrannen und „Infamen“ von heute, die dem Menschen die Freiheit ausreden, abkaufen, abschwätzen wollen. Die den Menschen einrede wollen, daß es die Freiheit gar nicht gibt. Diesem vielgestaltigen Feind — Ibsen hat ihn im „Peer Gynt“ den „Großen Krummen“ genannt — rückt er mit seinen Essays zu Leibe, „enfant perdu“ dieses Jahrhunderts, dessen intellektuelle Tapferkeit (Höhepunkt das Postskriptum an einen philosemitischen christlichen Kollegen über den Antisemitismus) durch das Bewußtsein, eine Achillesferse zu besitzen — als echter Linker also immer anfällig zu bleiben für den polizistischen Terrorismus des eigenen Lagers — nicht geschmälert, sondern erhöht wird.

Wir stellen Werner H e 1 w i g s vornehm und ohne jedes schmalzige Pathos geschriebenes Buch „Die. Blaue Blume des Wandervogels“ bewußt neben das Werk des so ganz anders gearteten Manes Sperber. Befragt sich in der „Achillesferse“ die europäische Spät- und Nachaufklärung über den eigenen Sieg, so befragt sich in Helwigs Buch die letzte Generation der großen europäischen Romantik nach den Ursachen und dem Sinn der Niederlage, die sie allerdings — wie Helwig unmißverständlich deutlich macht — nicht am blutigen Ende, sondern am triumphal „jugendbewegten“ Beginn des Naziregimes erlitt. Die literarische Form, in der dies abgehandelt wird, ist dem Thema gemäß. Der als Chronist ::nd Vorsitzender einer imaginären Runde fungierende Autor versammelt die Träumer, Streiter und Täter von einst zu einer Reihe platonischer Dialoge.

„Irgendwann und irgendwo in der Zeit hinter uns muß ]a wohl die Weiche falsch -“Stellt worden sein.“

So heißt es unmißverständlich gleich zu Anfang des Buches (S. 9). Das „Weißt du noch... und „Ja damals ...“, in dessen sentimentalem Schlummerlicht die Fäulnisbakterien der reaktionären Nazi- und Vor-naziliteratur von heute gleich in ganzen Kolonien gedeihen, steht bei diesen Gesprächen niemals burschenherrlich verklärt vor dem Leser. Dem Dionysier und Omphaliden der Jugendbewegung (solch edel hellenisches Gewand trugen die Vorfahren derer, die „hart wie Kruppstahl“ werden sollten) folgt die Frage des Lästrygonen auf dem Fuß. Gewiß gibt dieses Buch in erster Linie die geistigen und organisatorischen Etappen der deutschen Wandervogelbewegung wieder. Aber das mit Recht im Mittelpunkt stehende Fest auf dem „Hohen Meissner“, dessen emotionale (nicht programmatisch-formulierte) Ausstrahlung kaum überschätzt werden kann, ist ja für die gesamte, auch für die konfessionelle Jugendbewegung zum Stiftungstag geworden. Helwig, der mit allen Fasern „drin“ war, schließt nicht mit einem kühlen historischen Werturteil, noch weniger mit einer selbstquälerischen Schlußabrechnung. Er sieht den „Wandervogel“ und alles, was aus ihm hervorging, als einen letzten Versuch, das Ideal der klassischen Romantik (kein Widerspruch im Beiwort!) zu verwirklichen. Sein Abschied ist heiter, weil frei für neue, von der Romantik her nicht mehr zu bewältigende Aufgaben dieser so andersgearteten Epoche. Er ist aber auch ernst und schwer im Abwägen dessen, ob die Sühne der im Hitlerstaat eingekerkerten und getöteten Urwandervögel und Jugendbewegten gegenüber dem ausreicht, was gerade dieser deutsche Aufbruch selbst zum Heraufkommen des Regimes beigetragen hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung