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Literatur und Gewissen

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,,Meine Literatur hat interrogative Funktion, sie soll anregen, besser fragen zu lernen“, dies sind Manes Sperbers Worte, die sein Werk charakterisieren. Wie Wolfgang Kraus definiert: Sperber überschreitet die Grenze der Psychologie, aus deren Schule Adlerscher Prägung er kommt, und gelangt zu „skeptischer und kritischer Weisheit im somatischen Sinn“.

Der seit 1934 in Paris lebende Schriftsteller und Philosoph Manes Sperber kommt aus dem Randgebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie; er wurde 1905 in Galizien geboren. 1916 zieht die Familie nach Wien, wo der junge Sperber die Mittelschule und die Universität besucht. In der Hauptstadt der Monarchie umgibt ihn die „gegensätzliche, unruhige Tradition des alten Österreich“, die nicht nur für Sperbers weitere Entwicklung bis zu einem gewissen Grad bestimmend toird. Es ist die gleiche Tradition, die gleiche Stimmung, die in jeweils modifizierter Form auch Joseph Roth, Alfred Adler, Robert Musil, Sigmund Freud, Franz Kafka und Karl Schönherr prägt.

Noch weitgehend unter dem Einfluß seines Studiums der vergleichenden Individualpsychologie entsteht Sperbers erstes Werk „Alfred

Adler, der Mensch und seine Lehre“ (1926). Etwa vierzig Jahre später wird er noch einmal mit demselben Sujet an die Öffentlichkeit treten: „Alfred Adler oder das Elend der Psychologie“ erscheint 1970 und trägt unverkennbar den Stempel des für Sperber so charakteristischen, konstruktiven Skeptizismus. Er sieht die Verdienste, aber auch die Grenzen der Psychologie: „Die Erkenntnisse bestehen zu Recht, kommen jedoch nur bedingt zur Wirkung; sie verhelfen dem Menschen zum besseren Selbstverständnis, nicht aber den Menschen zu besserem gegenseitigem Verstehen; sie haben an der condi-tion humaine nichts oder nur sehr wenig geändert.“

In seiner Jugend engagiertes und idealistisches Mitglied der Kommunistischen Partei wird Sperber unter dem Eindruck der stalinistischen blutigen Säuberungsaktionen vollends ernüchtert und tritt 1937 aus der KP aus. Er wird zum überzeugten Antikommunisten, zum „wissenden Gegner“. Er schätzt und beherrscht die Dialektik des Marxismus, verwirft jedoch seine Dogmatik. In dem wohl bekanntesten Werk Sperbers, der Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ („Der verbrannte Dornbusch“, „Tiefer als der Abgrund“ und „Die verlorene

Bucht“), das trotz radikaler Kürzung durch den Autor selbst noch immer etwa 800 Seiten umfaßt, finden Schicksal, Erfahrung, Erleben und geistige Entwicklung des Autors ihren Niederschlag. Der Weg des Kommunismus von einer politischen Heilslehre („Sie haben an dem ungeheuren Betrug teilgenommen, die Menschen glauben zu machen, sie könnten auf Erden glücklich sein!“)

zur despotischen Vernichtung stellt einen zentralen Faktor im Leben und Schaffen Manes Sperbers dar. Trotz der Problematik der Verfilmung epischer Werke wurde der Versuch einer Fernsehfassung von „Wie eine Träne im Ozean“ unternommen, die mit nahezu einhelliger Begeisterung begrüßt wurde.

In den Jahren 1962, 1965, 1967, 1970 und 1971 unternahm der seit rund zwei Jahrzehnten auch als politischliterarischer Essayist für Rundfunk und Zeitungen tätige Romancier und Philosoph Vortragsreisen durch Österreich. Im Rahmen einiger Zyklen sprach er, „nach Wien nach Hause“ gekommen, als Gast der österreichischen Gesellschaft für Literatur und der Universtität Wien (1971 veranstelteten Studenten eine Unterschriftenaktion, um einen Lehrstuhl für Sperber zu erringen); diesmal kam Sperber auf Einladung des Europa-Verlages, bei dem sein jüngstes Werk „Leben in dieser Zeit — Sieben Fragen zur Gewalt“ erschienen ist. Durch seinen Festvortrag anläßlich der Eröffnung der österreichischen Jubiläumsbuchwoche, den er zum Thema „Literatur und Gewissen“ hielt, verlieh er der Veranstaltung besonderes Gewicht.

Das Werk:

„Alfred Adler — der Mensch und seine Lehre“, 1926.

„Zur Analyse der Tyrannis“, Essays, 1938.

„Die Achillesferse“, Essays, 1957.

„Wie eine Träne im Ozean“, 1961 („Der verbrannte Dornbusch“, 1949; „Tiefer als der Abgrund“, 1950; „Die verlorene Bucht“, 1953).

„Zur täglichen Weltgeschichte“ („Geschick und Mißgeschick der Intellektuellen in der Politik“, „Charles de Gaulle, der besiegte Sieger“), Essays, 1967.

„Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie“, 1970.

„Leben in dieser Zeit“, 1972.

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