6890306-1979_43_13.jpg
Digital In Arbeit

Spiegel des Judentums

Werbung
Werbung
Werbung

Ist nur der Tod, und früher oder später unser aller Untergang, eine unfaßbare Gewißheit? Trifft nicht auch für den Glauben und jedes mystische Erlebnis zu, daß es ebenso gewiß wie unfaßbar, ebenso zwingend wie rational unbezwinglich bleibt?

Da sich Manes Sperber als „ungläubiger Jude“ bekennt, distanziert er sich vom Sakralbereich seines Volkes, dessen überragende religiöse Begabung für die Weltgeschichte zweier Jahrtausende bestimmend geworden ist. In großem Respekt vor der Vergangenheit und vor den „Noch-Gläubigen“ vollzieht er diese Spaltung von Glauben und Volk.

Die Besonderheit des Judentums bestand ja lange Zeit darin, daß es sich als einziges Volk aus jenęr vergangenen geschichtlichen Phase herübergerettet hat, in der noch Glauben, Volk und Heimat eine unlösbare Trias darstellten. Athene, die Göttin, und Athen, die Stadt, waren eins. Zu Beginn der Romantik hat dann der schwelende Nationalismus jedem Volk einen stammesgöttlichen Glauben mundgerecht machen wollen. Was das Judentum - in aller Armut und Ausgesetztheit - genuin besaß, diese Einheit mußte von den anderen erst mühevoll und zumeist mit dem Blut der Angriffskriege (Napoleon) schlecht und recht synthetisiert werden.

Unterschwellig neidete man den Juden diese Einheit. Wodurch war sie so stark und unbegrenzt belastbar? War es ihr Glaube? War diese unfaßbare Glaubensgewißheit nicht noch gewisser als ihr Untergang, der Churban? Oder landen wir mit dieser Frage schließlich doch noch bei der Rassenlehre und der Völkerpsychologie? Beide tragen ja - nach dem nationalistisch und rassistisch aufgeputschten Völkermord zweier Weltkriege - die Etikette: Achtung Gift! Achtung Nebel!

Alle diese Schwierigkeiten sind dem großen Schriftsteller und redlichen Denker Maněs Sperber jederzeit bewußt, wenn er in großer Behutsamkeit, gleichsam in dauernder Rücksprache mit sich selbst, mit seiner Vergangenheit, seinen Kindheitserinnerungen, aber auch mit den Gegenwartseindrücken in Israel zu ergründen versucht, welche Funktion das Judesein nach der organisierten Ausrottung und Vernichtung, dem Churban, aber auch nach der Gründung eines selbständigen jüdischen Staates nun in ihm und in der Welt zu erfüllen habe. Besteht ja der jüdische Staat nun nicht mehr bloß in der unfaßbaren Gewißheit des Glau-. bens, sondern in der intriganten Ungewißheit der Politik.

Da ist zunächst die Sensibilität des Juden. Er, der selber Minderheit ist, setzt sich für jede Minderheit ein, für jede Minderung, welche dem Menschen oder den Werten von der egoistischen Majorität angetan wird. In diesem Sinn ist auch dieses Buch vom Martyrium des Judentums ein dringender Gegenwartsbeitrag, da es etwas wachrüttelt, das zu verkümmern droht: Das Gewissen.

Möglicherweise hängt dieser Schwund mit der Verwissenschaftlichung zusammen. Was die Wissenschaft zutage fordert, sind Kausalketten, und zwar solche, mit denen wir ziehen können, um das Mögliche wirklich zu machen, und solche, an denen wir selber gezogen werden. Durch die Psychologie, die Gen-Biologie werden immer neue Kausalbeziehungen aufgezeigt, und es ist eine heikle Frage, ob sie überhaupt bewertbar sind. Kann man Kausalzusammenhänge als gut oder bös bezeichnen?

Was ist „Schuld“? fragt fast täglich der moderne Pilatus und möchte gern von den normativen Gesetzen zu den psychologischen Ursache-Folge-Zusammenhängen Reißaus nehmen.

In dieser Epoche, wo kaum mehr von Schuld, sondern nur noch von Schulden die Rede ist, erscheint dieses Buch, das uns den Golgathaweg, aber nicht den des Judenkönigs in 14 Stationen, sondern des Judentums in fast drei Jahrtausenden führt. Hier kann die Schuld nicht mehr übergangen und verdrängt werden. Dostojewski antwortet: „Wir alle sind an allem schuld.“ So wird die Schuld in uns selbst zur Erlebnisgewißheit, zur dritten unfaßbaren Gewißheit gemeinsam mit deni Glauben und dem Tod.

Ich verhehle nicht, daß mich einige Seiten dieses Buches wehmütig gestimmt haben. Auf ihnen weist Manes Sperber den Philosemitismus eines christlichen Kollegen mit den Worten zurück: „Sie überschätzen uns Juden in gefährlicher Weise und bestehen darauf, unser ganzes Volk zu lieben ..

Was soll das heißen? Entweder ich gebe die Existenz einer Volksindividualität zu oder nicht. Wenn ja, dann muß sich die Zuneigung zu ihr auch am Geringsten dieses Volkes erweisen, wie dies die Iphigenie Goethes in der letzten Szene zu tun verspricht. Denn wir alle sind an allem schuld. Gibt es denn eine Möglichkeit, wenn man liebt, portioniert zu lieben? Die Liebe zu den Slawen, den Romanen und den Germanen, das ist es, was aus Franz Werfels Werk zu uns spricht, und was in Hugo von Hofmannsthals Gestalt lebt und wirkt. Es sind altösterreichische Juden, die zu solchem Europäertum fähig waren. Auch Maněs Sperber gehört dazu.

CHURBAN ODER DIE UNFASSBARE GEWISSHEIT. Essays. Von Maněs Sperber. Europaverlag, Wien 1979. 232 Seiten, öS 218,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung