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Wien: Ein Gestern ohne Heute?

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Nach einer langen Zeit der Landflucht ist die Stadtfluchi zur Realität geworden. Diesen und andere kritische Sätze stellte Erhard Busek an den Beginn dei ÖVP-Symposiums „Urbanes Leben in Wien”. Das Resultat des Symposiums war ein erfreuliches: Nicht in dem Sinne, daß etwas Konkretei herausgekommen wäre, etwa ein detailliertes Kochrezept für eine möglichst schmackhafte Zubereitung des urbanen Lebens in der Großstadt Wien. Das Befriedigende am Resultat war vielmehr der geglückte Versuch, sich einmal in Politikerkreisen nicht nur mit der so vielen Menschen völlig unverständlichen und fremden Alltagspolitik auseinanderzusetzen, sondern auch die grundsätzliche, selbstkritische und vielleicht auch peinliche Frage nach den Ursachen für fehlende Humanität, Gesichtslosigkeit und Anonymität in den Städten von heute zu stellen.

Für jene Wiener, denen es zuwider ist, fremde Meinungen anzuhören, um sie sich unreflektiert zueigen zu machen, denen es aber alles bedeutet, kritische, bisweilen auch fatalistisch-selbstzerstörerische Ansichten sozusagen als Hintergrundmusik über sich ergehen zu lassen, um. daran wieder die eigenen Gedankenausflüge zu knüpfen, war bereits der Eröffnungsabend eine sympathische Fundgrube: Manės Sperber, der in Paris denkende und schreibende Altösterreicher, präsentierte ein Wien-Bild ohne Weihrauch, ohne Schminke: Wien droht eine Stadt ohne Eigenschaften zu werden, eine Stadt, die zu jenem Wien, in dem Schiele, Kafka, Freud, Wittgenstein, Werfel oder Kraus ihre Spuren hinterließen, keine Beziehung mehr hat. Wien, so schwelgt Sperber in seinen eigenen Erinnerungen, war eine Stadt, die niemand verlassen hat, „ohne von ihr gezeichnet worden zu sein”.

Alles, was im Zeitraum 1890 bis 1930 in Wien in kultureller oder geistiger Sicht geschaffen worden ist, sei heute von brennender Aktualität. Diese Ansicht trübt aber eine Einsicht, die leider genauso für das Wien-Bild des Jahres 1977 formuliert werden könnte: „Es gab das seltsame Faktum, daß das, was hier in der Hauptstadt Niederösterreichs geschaffen wurde, nie über Mauer hinausging und selten Floridsdorf erreichte.” DasrLand Österreich, so lautet Sperbers These, war im wesentlichen im kulturellen Bereich antiwienerisch eingestellt. In den politischen Kämpfen habe man das auch immer wieder gesehen: Auch in der Ersten Republik bestand ein Teil der mit den Augen von Sperber betrachteten Tragödie daraus, daß allenthalben eine „seltsame Fremdheit” zwischen der Landbevölkerung und Wien herrschte. Kann Wien, obwohl es eine Stadt an der Grenze ist, kulturell und geistig ufieder eine Stadt der Mitte werden, fragte Sperber sich selbst: „Ich glaube, es könnte!”

Die Historikerin Erika Weinzierl versuchte die Sperberschen Reflexionen zum Thema Wien durch zusätzliche Facetten zu bereichern: Sie hatte sich kürzlich die Muße genommen, die Geschichtsbücher der Nachbarländer Österreichs daraufhin Zu untersuchen, welches Bild von Österreich und von Wien in ihnen vermittelt wird: Zum Thema Österreich fällt den meisten Lehrbuchautoren ohnehin nur Wien ein, wobei die Rolle als Residenzstadt der Habsburger, als Stadt der Musik, der Lippizzaner und der Sängerknaben dominiert. Ein Bild, das wesentlich in der Vergangenheit wurzelt.

Wien und die Wiener selbst haben ihre alte Identität verloren. Auf der Suche nach einer neuen Identität sind alle Beteiligten auf dem besten Weg, zu vergessen, wo die alte überhaupt war. Das Symposium „Urbanes Leben in Wien” war ein Beitrag wider diese Vergeßlichkeit.

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