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Mehr als eine Biographie

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Gustave Flaubert, der große französische Romancier, das Vorbild einiger Dichtergenerationen, hat den französischen Philosophen und Schriftsteller Jean Paul Sartre immer schon fasziniert. Flaubert war für Sartre eine Art „idealer Schriftsteller“, Modell für eine literaturtheoretische Untersuchung, die mehr sein sollte als bloße Faktensammlung. In seinem Alterswerk „Der Idiot der Familie“ macht er ihn zum exemplarischen Fall. Zwei Bände der deutschen Übersetzung liegen vor, der dritte und letzte erschien soeben (Besprechung folgt).

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Gustave Flaubert, der große französische Romancier, das Vorbild einiger Dichtergenerationen, hat den französischen Philosophen und Schriftsteller Jean Paul Sartre immer schon fasziniert. Flaubert war für Sartre eine Art „idealer Schriftsteller“, Modell für eine literaturtheoretische Untersuchung, die mehr sein sollte als bloße Faktensammlung. In seinem Alterswerk „Der Idiot der Familie“ macht er ihn zum exemplarischen Fall. Zwei Bände der deutschen Übersetzung liegen vor, der dritte und letzte erschien soeben (Besprechung folgt).

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„Das Thema dieses Buches: Was wissen wir - zum Beispiel - überNGu-stave Flaubert? Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche to-talisiert, und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wieder hervorbringt“. Mit diesen Sätzen hat Sartre auch schon sein Hauptanliegen formuliert und durch einen Begriff veranschaulicht: Er hat den Versuch unternommen, alle möglichen Erfahrungen über seinen Menschen und seine Zeit, über seine psychische und gesellschaftliche Situation in Zusammenhängen zu sehen, über den reinen Biographismus und die Soziologie hinauszugehen und ein „voUständiges Büd“ zu zeichnen, in das auch „autobiographische Momente des Schreibenden“ mit einfließen.

Die theoretische Grundlage seiner Untersuchung hatte Jean Paul Sartre-schon in dem 1958 erschienenen Band „Question de methode“ vorgezeichnet. Mit dem vorliegenden Werk versucht er, „Theorie in Praxis“ umzusetzen, zu konkretisieren. Alle bis dahin gültigen Formen von Wissenschaft und Interpretation, von Kunst und Kreation sollen „ineinander übergehen und verfließen“.

Sartre hat das Epos in fünf Abschnitte gegliedert: „Die Konstitution“, „Die Personalisation I“, „Die Personalisation II“, „Elbenhon oder die letzte Spirale“ und „Die objektive Neurose“.

Der erste TeU ist, wie schon der Titel sagt, den konstitutiven Voraussetzungen des jungen Flaubert gewidmet und geht auf die familiäre Situation ein, auf Flauberts Stellung in bezug auf seine beiden Geschwister, auf sein Verhältnis zu seiner Mutter und zu seinem Vater. Sartre selbst bezeichnet sein Vorgehen als „regressive Methode“, als Zurückgehen in die Kindheit, in die erste prägende Phase eines Menschen. Sartres These läuft darauf hinaus: Flaubert war ein von seiner Mutter

nicht gewolltes und nicht geliebtes, von seinem Vater nicht beachtetes Kind, das nur mit Mühe lesen und sprechen lernte und daher als zurückgebheben, debü, als „Idiot der Familie“ galt Diese passive Konstitution Flauberts, seine Unfähigkeit zur Auseinandersetzung mit seiner Famüie, schuf Sartre zufolge auch sein passives Verhältnis zur Sprache und zur Realität.

Diese These führt Sartre mit unerhörter stilistischer und inhaltlicher Brillanz aus, führt Textstellen aus Flauberts Werk an, historische Belege, literaturgeschichtliche Interpretationen. Immer wieder kehrt er zum Ausgangspunkt, zur Famüie Flaubert zurück, zu den Problemen des Spracherwerbs, die für Sartre vor allem psychische Probleme sind, Ausdruck einer mangelnden Sozialisation und Auseinandersetzung mit der Umwelt Die Kommunikationslosigkeit Flauberts geht auf das Nichtinteresse seines Vaters an Gesprächen mit dem jungen Gustave zurück. Gerade in diesen Interpretationsversuchen beweist Sartre seine psychoanalytische Kenntnis, seine Offenheit gegenüber Erkenntnissen, die jeden ideologischen Rahmen sprengen.

Doch Sartre bleibt nicht bei der iso-

lierten Person Flauberts stehen. Er porträtiert und untersucht die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die erst die Voraussetzungen „für Individuen wie eben jenen Gustave Flaubert“ schuf. Flaubert ist nur der „Einzelfall“, die Konkretisierung von objektiven Strukturen, von objektiven Sprachsystemen

Es gibt noch eine weitere und wichtige Ebene in diesem Werk: Die Sartres selbst. Denn Sartre hat auch ein persönliches, subjektives Verhältnis zu Flaubert, identifiziert sich mit ihm, seinen psychischen Strukturen. Der Flaubertroman wird so nach „Die Wörter“ zum zweiten, allerdings verdeckten, autobiographischen Werk Sartres; m der Person des Flaubert totalisiert Sartre seine eigene, artikuliert er seine Sehnsüchte und Bedürfnisse.

Ein faszinierendes Unterfangen, auch von der Ausführung her, brillant und sensibel geschrieben. Nie verfäUt Sartre ins Deklamieren oder Dozieren, er verbindet eine wissenschaftliche Aussage mit Poesie, verwischt Grenzen. Sartre sichtet Material und zieht seine Schlüsse, ohne Auf dringlichkeit, formuliert eher Vorschläge und Ansichten als apodiktische Urteüe. Der Leser ist fasziniert, gefangen Was Sartre geleistet hat, ist noch schwer abzuschätzen, denn in diesem Flaubertroman verbergen sich ein Psycho-gramm, eine soziologische Studie, ein autobiographisches Bekenntnis, eine literarhistorische Untersuchung und vor allem große Literatur. Sartre selbst würde es einen „Entwurf“ nennen.

DER IDIOT DER FAMILIE. Von Jean Paul Sartre. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1976177, Band 1,661 Seiten, Band 2, 474 Seiten, öS 492,80

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