Sie glaubten um die Wette

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Kurz vor seinem Tod scheint Sartre seinen eigenen Atheismus in Frage zu stellen.

Über die letzte Episode im Leben Sartres gibt es zwei Erzählungen. Lässt man sie, voneinander isoliert, auf sich wirken, scheint kaum glaublich, dass hier von ein und demselben Menschen die Rede ist. Auf der einen Seite der blinde, kleine, gebrechliche Mann, meist geführt von einer jungen Frau. Niemand gebraucht den Ausdruck "senil", aber innerhalb der Sartre-Gemeinde herrscht verhaltene Scham, weil der Verfall - der die Grenze zum Zerfall überschreitet - so offensichtlich ist. Ein psychophysischer Invalide mit der Aura kraftloser Nettigkeit.

Kraftlose Nettigkeit

Und dann, kurz nach dem mentalen und kurz vor dem körperlichen Ende, strafft sich die gebrechliche Gestalt. Aus dem Wrack spricht plötzlich ein machtvoller Geist. Der vor der Zeit Vergreiste artikuliert sich mit einer Klarheit, die sogar den luziden Sartre von "Das Sein und das Nichts" in den Schatten stellt.

Ein Blick in "L'espoir maintenant - Les Entretiens de 1980" - "Hoffnung jetzt" oder "Zuversicht sofort - Unterredungen von 1980" wäre als Übersetzung geeignet - genügt, um zu realisieren, dass der letzte prä-postmoderne Philosoph in Form ist. Gestochen scharfe Formulierungen, gespeist aus einem rhapsodisch-umfangreichen Gedächtnis. Aber für die Nachlassverwalter noch zu seinen Lebzeiten - eingeschlossen de Beauvoir - liegt eben im Kontrast von Form und Inhalt das Ärgernis. Sie halten den museal Abgeschotteten für verhext. Der Hexer heißt Benny Lévy.

Schon der Titel dieser "Gespräche" erstaunt: Es spricht eine Glaubensfreude daraus, die keinen Aufschub duldet, welche aber auch auf kein Bekehrungserlebnis zurückweist. Und das plötzlich kraftvoll Freundliche, Gesammelte durchwirkt jede Aussage des vor der Zeit gealterten Mannes. Bis zum Abschluss von "Das Sein und das Nichts", bis zum skizzenhaften Nachschlag "Wahrheit und Existenz" kreiste Sartres Denken um die "Liberté", die Freiheit. Die - dem existentialistischen Konzept immer fremde - Wendung zum Marxismus stand unter dem Banner der "Egalité", der Gleichheit. Und jetzt spricht Voltaires Wiedergänger (so hat ihn de Gaulle sinngemäß tituliert) von der Geschwisterlichkeit der Menschenwesen. "Fraternité", die Brüderlichkeit, zieht sich, ausgesprochen und verhalten, durch den ganzen Dialog. Das hätte die "Familie", wie sie der andere Lévy, Bernard-Henry, Sartres treuester Biograf, ironisch nennt, noch hingenommen. Aber, dass Sartre diese Zusammengehörigkeit mit dem Messianismus, ja der "Auferstehung des Fleisches" in Eins denkt, führt zum Eklat. Mehr noch, er, der den stringentesten Anti-Gottesbeweis der Neuzeit geliefert hat - das unmögliche an-sich-für-sich - bekennt sich indirekt zur Beziehung zu einem einzigen Gott: " ... un rapport avec un seul Dieu."

Sie glaubten um die Wette

Ein altersstarrer Proselyt, verführt von einem selbstbekehrten Juden? War dieser Benny Lévy nicht noch kurz vorher unter dem Pseudonym Pierre Victor ein rabiat linker Religionsverächter? Und jetzt sitzen die beiden zusammen und glauben gleichsam um die Wette. Günther Nenning hat einmal gesagt: "Ich war ja nicht immer so ein Frömmler, aber der Liebe Gott arbeitet mit allen Mitteln."

Hat Benny Lévy die Interviews getürkt? Aber sie liegen doch wohl dokumentiert in Form von Tonbandaufzeichnungen vor. Und, kein Zweifel: Wer hier das Heft in der Hand hat, ist Jean-Paul Sartre.

Über die wahren Gründe dieser letzten Wendung dürfen wir vermuten: Es ist entsetzlich, in den Spiegel zu blicken, und zu realisieren, dass niemand zuhause ist. Sartre hat dies getan. Und zu verarbeiten versucht: "Die Transzendenz des Egos". Was aber für den Buddhisten Befreiung bedeutet - anatta, die Selbstlosigkeit -, blieb für den schielenden Philosophen Qual. "Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends Halt", heißt es bei Nietzsche. Er und Schopenhauer sind Sartres Einflüsterer. Sie prägen ihn durchdringender als die einbekannten, Hegel, Kant, Husserl, Heidegger. Der Ich-Verlust begleitet seine zwangsläufige Karriere. Bis zur Begegnung mit Lévy. Was ihm mit seinem Lebensmenschen - de Beauvoir - nicht über die Lippen ging, hier scheint es ganz leicht: das Du. Schluss mit siezen. Aus dem lebenslangen Monolog, und wer würde bestreiten, dass "Das Sein und das Nichts" den vielleicht großartigsten Monolog seit der Rede von Parmenides Göttin über das Sein bietet, wird Dialog. Der Blinde sieht den Partner. Und das läuft auf ein moralisches Ende der Geschichte hinaus. So hat es Sartre selbst gesagt: Das ist der Beginn der Existenz von Menschen füreinander, oder noch genauer: das ist die Moralität.

Der Autor ist freier Journalist.

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