Zur Freiheit verurteilt

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Der französische Ausnahme-Denker Jean-Paul Sartre wäre am 21. Juni 100 Jahre alt geworden. Die Wirkung seiner Philosophie der Existenz geht weit über gewisse Modeerscheinungen des Existentialismus (S. 11) hinaus: Die Aktualität seines Freiheitsbegriffs wird nicht zuletzt angesichts der gegenwärtigen Debatte um die Hirnforschung deutlich (S. 9). Auch der Feminismus Simone de Beauvoirs fußt auf Sartres Ablehnung einer vorgegebenen Natur (S. 10). Umstritten sind die politischen Aussagen des Philosophen (S. 12). Redaktion: C. Hell, V. Thiel Auszug aus einem Vortrag beim Kongress "Jean-Paul Sartre, kritischer Denker moderner Zeiten".

Im vielschichtigen philosophischen und literarisch-essayistischen Werk Jean-Paul Sartres, der von Bernard Henri Lévy als Jahrhundertphilosoph bezeichnet wurde, spielt bekanntlich der Begriff der Freiheit eine wesentliche Rolle.

Sartre kann als einer der schärfsten und radikalsten Befürworter der menschlichen Freiheit gelten. Dies trifft sowohl für seine so genannte existenzialistische Periode zu, wie auch für seine Annäherung an den Marxismus und sein Spätwerk, in dem es unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Größen nach wie vor um Freiheit und Befreiung geht. Natürlich hat dies schon vor etlichen Jahrzehnten Widersprüche provoziert. Noch nie aber wurde die menschliche Freiheit so radikal in Frage gestellt wie durch die jüngsten Ergebnisse und Thesen der Hirnforschung. Denn diese erklärt die Freiheit schlechtweg zu einer Illusion, zu einem Spiel des Geflechtes von Neuronen und identifiziert weitgehend unser Selbst mit unserem Gehirn.

Sartre hat sich sehr wohl mit verschiedenen Determinismustheorien psychologischer Provenienz auseinander gesetzt und die Probleme der Willens- und Wahlfreiheit eingehend untersucht. Viele seiner Argumente ließen sich auch als Antworten auf die Thesen der Hirnforschung interpretieren, auch wenn der philosophische Freiheitsbegriff Sartres auf einer ontologischen und nicht auf einer empirischen Ebene angesiedelt ist.

Absoluter Freiheitsbegriff

Auf den ersten Blick erscheint die These Sartres, dass die Freiheit keine Eigenschaft, kein Vermögen, keine Sache des Willens des Menschen sei, sondern eine seiner Existenz, fast absolutistisch. Bekanntlich besteht nach Sartre zwischen dem Sein des Menschen und seinem Frei-Sein kein Unterschied. Freiheit gründet für ihn in der Existenzstruktur des menschlichen Seins, einer Existenz, die sich erst durch ihre freien Entscheidungen und Handlungen ihr Wesen schafft. Diese Kernthese des Sartreschen Existenzialismus liegt quer zu den Thesen der Hirnforschung und bringt gegenüber den geläufigen philosophischen Gegenargumenten, die mit dem Vorwurf der Kategorienfehler, des naturalistischen Fehlschlusses oder der hermeneutischen Naivität operieren, neue Gesichtspunkte ins Spiel, obwohl Sartres diesbezügliche Thesen schon vor einigen Jahrzehnten formuliert wurden. Anders als in der gegenwärtigen Debatte, bei der von Befürwortern der Freiheit sehr oft der Unterschied zwischen Gründen und Ursachen ins Treffen geführt wird - "Gehirne reagieren auf Ursachen, Menschen handeln aus Gründen" -, greift Sartre diese Unterscheidungen nicht auf. Für ihn ist die gesamte Problematik der Willensfreiheit im Grunde genommen obsolet. Sartre entwirft ein fast als kreisförmig zu bezeichnendes Handlungsmodell, in dem erst der Akt, gemeint ist die Wahl, über Motive, Anlässe oder Antriebe entscheidet. Erst die Handlung entscheidet nach Sartre über ihre Zwecke und ihre Antriebe und nicht umgekehrt, denn Motive und Antriebe erhalten erst durch die Wahl ihren Stellenwert; sie erhalten sozusagen ihr Gewicht erst durch meinen freien Entwurf. Darum kann Sartre folgern, dass dann, wenn ich erwäge, im Grunde schon alles entschieden ist, und der Wille nur den Wert eines Ankündigers hat, da die Entscheidung schon getroffen sei, sobald der Wille interveniert.

Existenz vor Essenz

Verblüffenderweise entspricht diese ontologische Analyse des Willens auf den ersten Blick genau den Argumenten der Hirnforscher. Entscheidungen und Handlungen sind nach diesen durch neuronale Prozesse vorbereitet und werden letztlich vom Gehirn getroffen. Wenn der Wille auftritt, ist bereits alles entschieden. Damit hat die Debatte um Willensfreiheit oder Determinismus im Grunde ihren Sinn verloren. Die Begründung der Freiheit auf ontologischer Ebene liegt diesem Streit sozusagen voraus: Aus der Nichtigkeitsstruktur des Daseins, die Sartre ontologisch in die paradox klingende Formulierung fasste "das menschliche Sein sei das, was es nicht ist und nicht das, was es ist", folgt ja die berühmte These, dass beim Menschen die Existenz der Essenz vorausgehe und dass der Mensch kein festgelegtes Wesen habe, sondern sich aus Freiheit sein Wesen zu schaffen habe. Damit entfernt sich Sartre auch von allen idealistisch-metaphysischen Begründungen der Freiheit, ebenso aber auch vom Versuch, sie aus naturalistischer Perspektive in Abrede zu stellen.

Natürlich dachte Sartre nicht daran, Bedingungen der Freiheit zu leugnen: wir befinden uns in Ausübung unserer Freiheit immer in dem, was Sartre die Situation nennt und die durch unsere faktischen Umstände wie etwa unsere Geburt, die Zeit in der wir leben, unsere soziale Befindlichkeit und unsere Leiblichkeit gegeben ist. Aber keine Situation vermag uns zu determinieren, denn alle Determinanten können sich erst durch unsere Wahl und unsere Zielsetzungen als Beschränkungen erweisen.

Totale Verantwortung

Unsere Freiheit, meinte Sartre, wählt sich, indem sie sich frei wählt, auch ihre Grenzen und Beschränkungen. Dies gilt auch für die mehrfachen Dimensionen unserer Leiblichkeit. Sartre betonte vehement den Unterschied zwischen dem Leib für uns und dem Leib als ein Objekt in der Welt und als Gegenstand für andere. Denn genau dieser Leib ist es, auf den die Hirnforschung rekurriert, der doch vom "gelebten Leib, wie ich ihn erfahre und empfinde", verschieden ist. Sartre scheute nicht davor zurück, diesen Leib als Teil der Struktur des Seins des Bewusstseins zu bezeichnen, der erst auf dem Umweg über den anderen für mich selbst objektiviert werden kann. Darum können Physiologie und Anatomie nur eine synthetische Rekonstruktion der Lebensvorgänge vom Leichnam aus darstellen. Damit fielen für ihn die Behauptungen der Hirnforscher, dass uns Verschaltungen des Gehirns festlegten, ins Leere. Die Behauptung der experimentellen Psychologie und der Hirnforschung von der Determiniertheit all unserer Entscheidungen beziehen sich auf eine Auffassung vom menschlichen Leib, die nicht dessen existenzieller und gelebter Dimension entsprechen kann.

Auch wenn die Hirnforschung zur Erklärung unserer Freiheitsillusion und der Illusion des Selbst soziale Kontexte heranzieht, die uns im Alltagsverstehen zwischen freien und unfreien Entscheidungen differenzieren lassen - grundsätzlich bleiben wir in unseren Entscheidungen determiniert. Auch da, wo wir uns als selbstbestimmte und frei zu entscheidende Wesen zu erfahren glauben, sind es die neuronalen Grundlagen, die uns determinieren. Dagegen plädiert Sartre radikal für Verantwortung, die aus unserer grundsätzlichen Freiheit folgt und die uns keine Entschuldigungen und damit auch solchen, die sich auf neuronale Prozesse beziehen, erlaubt. Es gibt für Sartre kein Schicksal, keine Determination, weder durch die Gene, noch durch soziale oder andere Bedingtheiten.

Gewiss, auch diese Überdehnung der Verantwortlichkeit wirft Probleme auf, und Sartre hat sie auch später reduziert und den Einfluss äußerer Faktizitäten größeres Gewicht beigemessen. Aber er hat sich im Grunde genommen auch in seinem späteren Denken nicht von den Grundsätzen seiner Freiheitsauffassung entfernt. Selbst seine absolutistische Freiheitsthese und sein Verantwortungsbegriff sind mit ethischen und rechtsphilosophischen Überlegungen eher kompatibel als die Auffassungen der Hirnforschung.

Mehr als nur Hirn

"Der Mensch ist dazu verurteilt frei zu sein" lautet die These Jean- Paul Sartres. "Keiner kann anders sein, als er ist" behaupten Hirnforscher wie zum Beispiel Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Man kann sich freilich fragen, ob zwischen den beiden Behauptungen, ungeachtet der Verschiedenheit der Argumentationsweisen und Ausgangspositionen, wirklich ein wesentlicher Unterschied besteht. Verurteilt sein zur Freiheit, deren Grundlage ich nie sein kann, und dazu verurteilt zu sein, dem neuronalen Spiel meiner Hirnprozesse zu folgen - beides scheint auf eine merkwürdige Art zu konvergieren.

Der Freiheitsphilosoph Sartre hat uns aber zumindest daran erinnert, dass wir ungeachtet des weiten Spielraumes unserer Entscheidungsmöglichkeiten uns nicht aus unserer Verantwortung wegstehlen können - auch nicht unter Berufung auf die neuronalen Prozesse unseres Gehirns. Wir sind - was immer wir auch sind - mehr als unser Gehirn.

Der Autor ist Professor

für Philosophie und Dekan der Fakultät für Philosophie und

Bildungswissenschaft an der

Universität Wien.

Buchtipp:

Jean-Paul Sartre

Von Peter Kampits.

Beck'sche Reihe Denker,

C.H. Beck Verlag, München 2004

176 Seiten, brosch., e 12,90

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