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Rußlands Bewährung

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Die Zeit ist gekommen, neuerdings Fjodor M. Dostojewskij zu lesen - man wird erstaunlich aktuelle Funde machen. So sagt die Hauptfigur in seinem letzten großen Roman „Der Jüngling", Arkadij Makerowitsch Dolgo-ruski, über Rußland: „Wir haben den Einfall der Tataren überlebt und dann zweihundet Jahre Knechtschaft, und das selbstverständlich nur deshalb, weil das eine wie das andere nach unserem Geschmack war. Jetzt ist uns die Freiheit gegeben, und wir müssen die Freiheit ertragen: werden wir auch das verstehen? Wird es sich erweisen, daß auch die Freiheit zu ertragen nach unserem Geschmack ist? Das ist die Frage."

Der große, in München lebende sowjetische Schriftsteller Alexander Sinowjew, der mit seinen Romanen „Gähnende Höhen" und „Lichte Zukunft" ein Partdämonium der kommunistischen Gesellschaft in Moskau geschrieben hat, betont immer wieder seine ketzerische Meinung, daß die russische Mentalität keineswegs unschuldig an der siebzigjährigen Herrschaft des Kommunismus in seinem Lande gewesen sei.

Das Volk habe tausend Jahre in harter Unterdrückung gelebt, sodaß die Disposition zum Absolutismus den Menschen tief eingeprägt war. Zwar habe die russische Revolution, die Februarrevolution, als ein Aufstand zur Freiheit begonnen, aber schon in der Oktoberrevolution die Wendung zu einer neuen Diktatur unter Lenin genommen. Unter Stalin sei dann die

Kontinuität des Absolutismus auf schrecklichste Weise wieder deutlich gewesen.

Die Ereignisse des August 1991 scheinen hier eine große historische Änderung signalisiert zu haben: das Volk riskierte in lebensgefährlichen Demonstrationen und Streiks ein Niedergerollt-werden durch Panzer. Der geradezu elementare Wille zur Demokratie hatte zu einer gewaltigen Aktion geführt.

Wäre Dostojewskij zufrieden gewesen? Das ist wohl anzunehmen. Aber man muß bei aller Anerkennung und Bewunderung dieses Mutes, dieser Entschlossenheit und Konsequenz von Hunderttausenden dennoch vorsichtig hinzufügen: Werden für die Bevölkerung die Belastungen der alltäglichen initiativen Arbeit zu ertragen sein? Werden die 290 Millionen einzelnen das auf Leistung aufgebaute Risiko des Lebens in der Demokratie in strapaziösem täglichem Einsatz erfolgreich bestehen?

Lew Kopelew, der in Köln wohnt, aber zufällig in Moskau Zeuge des großen Volksaufstandes gegen die Putschisten wurde, sagte: „Das ist die große russische Revolution gegen den Absolutismus und gegen die Tyrannei, die Fortführung der Februarereignisse." Zwischen bewundernswertem Heroismus und den tausendfachen kleinen Bewährungen im demokratischen Alltag besteht aber ein gewaltiger Unterschied. Diese tägliche aktive Übung der Freiheit meinte Dostojewskij - und sie wird die eigentliche Aufgabe der Bevölkerung sein.

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