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Urkundenkunde

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Urkunde muß sein! Keine Frage: des Menschen Glück steht auf Urkunden. In vielen Fällen jedenfalls. Und das ist ja noch gar nicht alles: manches Menschen Glück liegt in derselben, in deren Erreichung, in deren Überreichung, möglichst feierlich und vor allem - öffentlich.

Am Anfang war die Macht und deren glänzende Zeichen, von den großen bis zu den klitzekleinen

Kronen mit den vielen, vielen Spitzen. Dann gab es aus gutem Grund guten Grund und Boden, ebenfalls per Urkunde vermacht und mit dickem Siegel dran. Dann gab es davon nicht mehr genug, aber der Wunsch nach Anerkennung blieb. So erfand man statt der teuren Belehnung mit Boden die billigere Belohnung durch einen Titel: auch der durch eine Urkunde bestätigt und besiegelt.

Als man keine Landstriche, keine Schlösser, keine Schwerter und keine Frauen mehr als Dank für treue Dienste vergeben konnte, da behalf man sich mit Orden, Diplomen, Dekreten. Monarchien stürzten, Schlösser wurden verwüstet, Jungfrauen vergingen, Rüstungen verrosteten — die Urkunde blieb bestehen. Was heißt, blieb bestehen?! Sie vermehrte sich, sich wucherte, sie wurde" schließlich ubiquitär. Sie wurde zu Salz und Pfeffer der bürgerlichen wie der proletarischen Gesellschaften.

Wie soll man sich auch nicht über Urkunden freuen? Grafschaften, Fürstentitel und erbliche Hausorden kann man nicht mehr erwerben, zumindest nicht . mehr auf feine, ehrenhafte und dennoch vorzeigbare Weise. Krönchen für die Visitenkarte, mehrzellige Vor- und Nachsätze zum eigenen, viel zu kurzen Namen, Ehrenuniformen mit eigenem Wappen und Honorar-Garden kann man sich zwar noch zulegen. Aber dies kostet viel Geld, und man weiß nicht, ob der noble Vermittler letztlich auch noch dichthält, wenn man seine finanziellen Dauerforderungen nicht mehr erfüllen mag.

Wie soll man sich denn da heute noch füglich vom gemeinen Volk unterscheiden?

Sicherlich: da gibt es so manche akademische Möglichkeit, den Namen zu Unterscheidungszwek-ken zu verlängern. Man kann nach langen Berufsjahren mit guten Beziehungen sogar noch den freilich nicht mehr allzu seltenen Vornamen „Professor" zugestanden bekommen. Aber all dies ist schwierig und ränkevoll. Der Vorgang ist zudem, fast immer, einmalig.

Der Wunsch nach Auszeichnung -aber ist unstillbar — und er kommt nicht erst mit den Jahren. Deshalb hat der liebe Gott ja auch den Mutterkuß, Omi's Hundertschillingschein, den Römischen Einser erfunden — und die Urkunde! Die, die man überreicht bekommt, eingerahmt in

eine Mitgliederversammlung, in einen Heimatabend, in Immergrünes vom Stadtgartenamt, in Vorträge des Schulchores oder in den Ubungsabend eines jugendlichen Streichquartetts. Urkunden, die bescheinigen und damit gut tun. Gut sind sie, die Urkunden, für den Nehmer und — billig dazu auch noch — für den Geber.

Urkunden waren lange Zeit ein Objekt der Rechtsgelehrten und der Rechtspflege. Welch verhängnisvolle Einseitigkeit!

Verleiht Urkunden, und alles strahlt! Urkunden begleiten das Berufsleben: man beginnt hoffnungsfroh den neuen Job und strahlt; man wird befördert, kommt weiter, hat Erfolg und strahlt; dann muß man endlich gehen — und, wie stets, wird eine Urkunde überreicht — und alle anderen strahlen.

Und auch beim Sport: früher, als man Urkunden noch naiv und unwissenschaftlich vergab, erhielten die begehrten Papiere nur die Sieger, heute bekommt sie füglich jeder Teilnehmer — und wer nachgewiesenermaßen an

der Teilnahme durch fremde Gewalt verhindert war und ein richtig gestempeltes Ansuchen stellt, der bekommt sie,auch noch.

Und was wäre schließlich der alpine Tourismus ohne Urkunden — für die reichlich zahlenden Gäste. Man begann mit Urkunden für sportliche Leistungen, aber wer will denn im Urlaub schon unbedingt etwas Sportliches leisten. Dann gab es Urkunden für allerlei Wissen um den wunderbaren Ferienort und seine einmaligen Urlaubsmöglichkeiten. Aber die Fragen standen oft im krassen Gegensatz zur verregneten Urlaubswirklichkeit und wirkten dann peinlich. So kam man — auf Anraten international versierter Urkundenexperten — schließlich auf die zündende Idee, Urkunden nicht nur für den mehrmaligen Besuch einunddes-selben Ferienortes, sondern schlicht für die blanke Anwesenheit zum Zeitpunkt der Urkundenverleihung zu verleihen.

Mit allem Zeremoniell natürlich, mit Präsident und Vizepräsident, Jodlergruppe, Zillertaler Bernhardiner und Steinhäger — aus Salzburg. Da strömten denn auch die Touristen, die davon aus der Fernsehwerbung erfahren hatten, aus allen Teilen Europas, vor allem aus dem Norden, zu den pfiffigen Urkundlern in die Alpen.

Allerdings nur bis zum vorletzten Jahr. Letzten Sommer hat das kleine Dorf Pinkawart, nahe der ungarischen Grenze, das Rennen gemacht. Tausende Fremde hatte das sensationelle Angebot, als Geheimtip selbstverständlich, noch rechtzeitig vor Ferienbeginn erfahren, und fielen erwartungsgemäß in Pinkawarts Rathaus ein.

Dort gab es dann, dreimal täglich, die große Zeremonie. Jedem Erschienenen wurde eine luxuriöse Urkunde überreicht, worin nichts anderes beurkundet wurde, als daß der, für den die Urkunde ausgestellt worden war, diese auch überreicht bekommen hatte.

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