Auch Dimensionen der Wirklichkeit

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Auch der Papst treibt Geister aus: In Indien wird das als weniger obskur angesehen als es auf den ersten Blick zu sein scheint.

Der Bericht vom Exorzismus des Papstes an einer jungen Italienerin ging vor wenigen Wochen durch die internationale Presse. Geisteraustreibung in den Gemächern des Vatikans. Die Geschichte wird Wasser auf die Mühlen all jener sein, die den jetzigen Papst immer schon als Nachfahren des angeblich finsteren Mittelalters betrachtet haben und die katholische Kirche insgesamt als Bastion des Obskurantismus.

Von Indien aus sieht man das Phänomen, um das es hier geht, mit anderen Augen. Auch hier gibt es sicher Leute, die den Exorzismus des Papstes als Rückfall in vormoderne Zeiten ansehen. Aber generell wird in Indien selbstverständlich anerkannt, dass Besessenheit existiert - auch durch urbane Intellektuelle, nicht bloß in der Volksfrömmigkeit. Eine jüngere anthropologische Studie bestätigt diese Einschätzung für das Kathmandu-Tal in Nepal (Angela Dietrich, Tantric Healing in the Kathmandu Valley, Delhi 1998). Offenbar ist es in Südasien noch Teil des alltäglichen Wissens, an welchen Symptomen man erkennen kann, dass ein Mensch nicht einfach psychisch oder physisch krank, sondern von einem Geist (bhut) besessen ist. Und ebenso weiß man, was in diesem Fall zu tun ist. Man kennt spirituelle Heiler und die entsprechenden Orte, an denen sie arbeiten - oft in einem Tempel, in dem der heilende Aspekt der Gottheit (zum Beipiel Shiva als Heiler) verehrt wird oder am Schrein eines hinduistischen oder muslimischen Heiligen wie in Ajmer in Rajasthan. Manche Orte sind "spezialisiert" auf die Heilung von Besessenheit. Der kanadische Religionswissenschaftler David Kinsley hat zwischen 1997 und 1999 in einem Forschungsprojekt Heilerinnen und Heiler sowie Orte der Heilung in Varanasi (Nordindien) untersucht und dabei eine erstaunlich große Zahl an aktiven Glaubensheilern und ihren "Klienten" festgestellt. Auch andere ethnomedizinische Studien ergeben, dass die religiöse Heilung in Indien eine wirksame und stark nachgefragte Alternative neben anderen medizinischen Systemen wie Ayurveda, Homöopathie oder westlicher Medizin darstellt.

Zu den häufigsten Fällen, in denen Menschen in Indien einen spirituellen Heiler aufsuchen, gehört die Besessenheit - oft nachdem sie zunächst erfolglos andere Medizinformen anzuwenden versucht haben. Ein Heiler in Varanasi, mit dem Kinsley zusammenarbeitete, berichtete ihm, dass 75 Prozent der Fälle, in denen Menschen zu ihm kommen, mit Besessenheit zu tun haben.

Im indischen Kontext geht man von verschiedenen Formen der Besessenheit aus. Man kann von einer Gottheit oder einem guten, übernatürlichen Wesen besessen werden, aber auch von einem bösen Geist oder von einem Dämon. In jedem Dorf in Orissa (Ostindien) gibt es noch ein Medium (kalesi), hauptsächlich Frauen, die von der Gottheit besessen werden, in Trance geraten und als Orakel dienen.

Wie erklärt man nun die Besessenheit durch einen Geist? Eine der Erklärungen ist diese: Stirbt ein Mensch eines unnatürlichen Todes oder findet kein Totenritual statt, dann gelingt der Übergang ins Jenseits (im Hinduismus: in eine nächste Inkarnation) nicht. Der Geist des Verstorbenen bleibt unerlöst. Der wandernde Geist (preta) kann dann von einem anderen Menschen Besitz ergreifen, seine Unerlöstheit gewissermaßen an ihn weitergeben, indem er ihn quält, plötzliche Krankheiten, Selbstverletzungen oder Aggression auslöst . Es kann aber auch der Geist eines "Magiers" oder einer "Hexe" in den Körper des Opfers eindringen und ihn in den Tod treiben. Der Exorzismus geschieht auf unterschiedliche Weise, vor allem mit Mantren, Ritual (etwa: puja) oder mystischen Diagrammen (yantra).

Die Begegnung mit der alltäglichen Wirklichkeit von Besessenheit und ihrer Heilung in Indien wirft für Menschen im Westen zahlreiche Fragen auf: Fragen nach dem Umgang mit Verstorbenen im technisierten Medizinbetrieb, aber auch ganz grundsätzlich nach dem Menschenbild - ist der Mensch nur ein bio-mechanischer Apparat oder ein geistiges Wesen? Für die Theologie im Westen stellt sich die Frage, ob sie im Prozess der Entmythisierung - nicht zuletzt der Heilungsberichte im Neuen Testament - das Kind mit dem Bad ausgeschüttet hat. Können nicht durch die Begegnung mit lebendigen Traditionen der Glaubensheilung Jesus als Heiler von Krankheit und Besessenheit und die verschütteten eigenen Traditionen spiritueller Heilung wiederentdeckt werden? Kann nicht im Austausch mit anderen spirituellen Traditionen ein erweitertes Verständnis von Ritual, Bewusstsein und Körper und ihrem Zusammenhang gewonnen werden?

Nicht alle Dimensionen der Wirklichkeit sind mit den Kategorien der Naturwissenschaft - seien es Medizin (vor allem Psychiatrie) oder Psychoanalyse - erfassbar. Nachdem man das enge rationalistische Paradigma der Vernunft im Westen selbst in den letzten Jahrzehnten zu korrigieren und zu erweitern versucht hat, wäre doch der Boden bereit anzuerkennen: dass es andere Formen der Vernunft gibt, andere Kosmologien, andere Weltbilder, die realitätsgerecht sind. In interkultureller Perspektive ist der Exorzismus, den der Papst durchführte, weniger obskur, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Tipp

Der Autor, Theologe und Erwachsenenbildner, arbeitet derzeit an seiner Dissertation über den christlich-hinduistischen Dialog: Er organisiert die nebenstehend angekündigte Konferenz in Salzburg.

Tipp

Heil und Heilung in der indischen und christlichen Tradition

Konferenz mit Bettina Bäumer (Indologin, Varanasi), Harsa Satapathy (Heiler, Indien), William Sax (Ethnologe, Heidelberg), Peter Trummer (Theologe, Graz), Christiane Handl (Psychiaterin, Wien)

Ort: Bildungshaus St. Virgil, 5026 Salzburg, Ernst-Grein-Starße14

Zeit: 10. bis 12. Mai 2002

Information: Tel. 0662/65901-514, E-Mail: office@virgil.at

Internet: www.virgil.at

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