Ehrfurcht: Psychologie einer Stärke

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Für viele klingt der Begriff "Ehrfurcht" einschüchternd und veraltet. Doch in jüngster Zeit wird er wiederentdeckt -auch für die Erziehung.

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Für viele klingt der Begriff "Ehrfurcht" einschüchternd und veraltet. Doch in jüngster Zeit wird er wiederentdeckt -auch für die Erziehung.

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Ich unterwerfe mich mit gebührender Ehrfurcht" hatten ab dem Jahre 1910 alle Kleriker zu schwören - freilich nicht Gott, sondern dem päpstlichen Lehramt (Antimodernisteneid). Vielfach zielte katholische Erziehung darauf ab, dass sich Menschen demütig in die Kirchenbänke knien, den Kopf senken, zur Kommunionbank schreiten und dort ehrfürchtig die Zunge herausstrecken. In zahlreichen Internetforen wird bis heute über die Handkommunion hergezogen: "blasphemische Ehrfurchtslosigkeit", in der Hölle zu büßen.

Von daher versteht sich, dass "Ehrfurcht" für viele kritische Katholiken -zumal wenn traditionell erzogen -ein rotes Tuch ist: "Einschüchterung, katholische Kirche, alt, nicht mehr zeitgemäß", so eine zwanzigjährige Pädagogikstudentin. Damit kontrastiert, dass kein geringerer Freigeist als Goethe "Ehrfurcht" in den höchsten Tönen lobte. Sie sei das, "worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei", so im Bildungsroman "Wilhelm Meisters Wanderjahre".

Respekt, Bewunderung und Staunen

In den letzten Jahren vollzog sich zumal in der angelsächsischen Psychologie eine Rehabilitierung der "Ehrfurcht" (dort "awe"), zusehends auch hierzulande. Das Wort ist vergleichsweise jung: Luther kannte es ebenso wenig wie Meister Eckhart, obschon beide zu entsprechenden Empfindungen fähig waren; und es entstand, weil "Ehre" nicht mehr die Bedeutungstiefe hatte wie beim Beginn der Schubertmesse, sodass ihm "Furcht" angehängt wurde. Von dieser ist Ehrfurcht wesentlich verschieden: Während in ersterer der Mensch das Bedrohliche zu fliehen trachtet (etwa den angreifenden Tiger) oder zu zerstören versucht (der Schlange den Kopf zertreten), bleibt das Ehrfurchtsgebietende unangetastet: Sei es, weil es übermächtig ist wie das in der Morgensonne aufleuchtende Matterhorn, sei es, weil es Beschützerinstinkte weckt wie der neugeborene Säugling.

Verschieden ist Ehrfurcht auch von Respekt, der ein zwischenmenschliches Geschehen ist und gemäß aktuellen Deutungen auf gleicher Augenhöhe liegt, speziell als wechselseitige Anerkennung, etwa von (unterschiedlichen) Meinungen. Vor einem Sonnenuntergang haben wir nicht Respekt, vielleicht vor einem Hund - erst recht, wenn er uns gebissen hat. Ehrfurcht steht auch in der Nähe von Bewunderung, die sich aber auch auf irregeleitete Genialität beziehen kann: Vor raffinierten Steuertricks haben wir nicht Ehrfurcht. Und nicht zuletzt besteht eine Affinität zum Ursprung des Philosophierens, zum Staunen, das zur Ehrfurcht hinführen kann. Diese lässt sich als Begegnung des Menschen mit etwas definieren, das gewaltiger, umfassender und vollkommener ist als er selbst, das aber dazu bewegen kann, diesem in der Seele oder im Gemüt ähnlich zu werden, gegebenenfalls auch das Verhalten zu ändern, beispielsweise das uns vorausliegende Leben zu schützen, so gut wir es vermögen (Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben").

Aber: Sind Menschen überhaupt noch zu Ehrfurcht fähig? So alt wie die Menschheitsgeschichte ist die Klage über die angeblich verschwundene Ehrfurcht. Sie taucht bereits beim griechischen Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.) auf, oder beim französischen Bischof Dupanloup, der 1867 schrieb: "Die Ehrfurcht ist erloschen"; oder in einer deutschen Onlinezeitung vom 30. September 2011: "Früher hatte man noch Ehrfurcht", speziell vor Toten.

"Staunen und Ergriffenheit"

In den letzten Monaten haben wir in Linz und Salzburg 500 Personen zwischen 18 und 80 Jahren zur Ehrfurcht befragt. Ein Viertel steht ihr ablehnend gegenüber, zumal weil sie Unterdrückung assoziiert: "Veralteter Begriff, im Zusammenhang mit angsteinflößenden Autoritäten, Gott, Religion. Erzieher", wird geantwortet, gelegentlich auch auf die "Angst vor dem Beichtstuhl" verwiesen. Aber drei von vier Personen sehen sie positiv ("Ein erhabenes Gefühl von Größe, hat Tiefe, ist Staunen und Ergriffenheit"), gelegentlich gilt sie als intensivste Emotion: "Ein regelrechtes Gänsehautfeeling", worüber Goethe in Faust 2 auch schrieb: "Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil."

Doch wovor empfinden Menschen Ehrfurcht? Vor den Schaltern in geradezu kirchlich gestalteten Bankhallen? Vor mächtigen Personen wie dem amerikanischen Präsidenten? Mitnichten! Am häufigsten ist die Ehrfurcht vor dem Leben, zumal an dessen Grenzen. Eine Mutter empfand "Ehrfurcht bei der Geburt meines Sohnes. Als erstes sah ich sein Öhrlein, so winzig, so wunderbar!" Auch am Ende des Lebens wird Ehrfurcht verspürt: "Als ich das letzte Mal meinem Vater in die Augen schaute, bevor sie zufielen." Ehrfurcht empfindet man auch vor moralisch herausragenden Persönlichkeiten, seien es bekannt gewordene ("'Schindlers Liste', da lief es mir kalt über den Rücken"), seien es namenlose Personen im Alltag ("Meine Schwiegermutter: Sie hat zehn Kinder in einer 70-Quadratmeter-Wohnung großgezogen -ich verspüre heute noch tiefe Ehrfurcht vor ihr.") Ausgesprochen häufig geschildert wird auch Ehrfurcht vor der Natur, nicht nur vor deren Größe und Gewalten ("Wenn die Natur zurückschlägt, Lawinen, Orkane. Dann erkenne ich, wie vergänglich und klein ich bin. Ich fühle mich dann sogar besser. Ich mag Ehrfurcht. Sie befreit von Arroganz!"), sondern auch Ehrfurcht vor dem Winzigen und Unscheinbaren ("vor der Schönheit von Schneekristallen, beim Aufspringen der Knospen"). Dieses fast Unscheinbare bedeutet freilich auch Stärke: Wer könnte es aufhalten? Auch menschliche Artefakte können Ehrfurcht hervorrufen: "In Peru, als ich zu Sonnenaufgang Machu Pichu gesehen habe. Unglaublich, wie da Menschen etwas so Gewaltiges bauen konnten", sagte einer.

Eher selten wurde religiös motivierte Ehrfurcht geschildert: "Eine tiefe Ehrfurcht verspüre ich bei jedem Gebet, oder wenn ich Bilder aus Mekka sehe." Eine Christin meinte: "Ehrfurcht vor Gott, dem Schöpfer, wenn ich in den Sternenhimmel blicke und erkenne, wie winzig wird sind." In der Tat: Imaginieren wir unsere Spiralgalaxie als Sternenring mit zehn Kilometern Durchmesser. Unser Sonnensystem, bis Pluto, misst darin 0,1 Millimeter -mit bloßem Auge kaum zu sehen. Und unsere Galaxie: Nur eine von geschätzten 120 Milliarden!

Was kann Ehrfurcht bewirken? Traditionell oft Unterwürfigkeit. Diktatoren wie Kim Jong Il in Nordkorea, auf Plakatwänden überlebensgroß konterfeit, umgaben sich mit einem Nimbus der Ehrfurcht: Die Untertanen schwiegen und sanken in die Knie. Aber tief ehrfürchtig war auch Anton Bruckner, der in einem Brief bekannte: "Eigentlich habe ich das, was meine Freunde jetzt groß nennen, nur fertig gebracht, weil ich von Jugend an Ehrfurcht gehabt habe. In dieser ist mein Herz groß und weit geworden." Auch ein weiterer Oberösterreicher war zu tiefer Ehrfurcht fähig: Adalbert Stifter. Unnachahmlich, wie er die totale Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842 beschrieb, wie der Mond das Licht wegschluckte, die Vögel verstummten, eine unheimliche, dunkelnde Stille auf die Erde niedersank, was ihn mit "Schauer und Erhabenheit" erfüllte. "Klein wie Staub" habe er sich gefühlt, aber die Seele gleichzeitig unendlich groß. Selbst vor einem "kleinsten Sandkörnchen" empfand er Ehrfurcht, weil es "ein Wunder ist, dessen Wesenheit man nicht ergründen kann."

Was Dichter als Wirkung der Ehrfurcht beschrieben und Komponisten in Musik umsetzen, bezeichnen Psychologen so: Ehrfurcht sei die Akkommodation des Menschen an etwas Größeres, Stärkeres, Vollkommeneres. Studierende, die ehrfurchtseinflößende Stimuli gesehen hatten - galaktische Nebel oder aus dem Meer tauchende Blauwale -, hatten hernach das Gefühl, mehr Zeit für Wesentliches zu haben, spürten die menschliche Existenz tiefer, fühlten sich mit dem Kosmos stärker verbunden. Eine besonders raffinierte Studie zeigte, dass bei stillenden Müttern, nachdem sie solche Stimuli gesehen hatten, ein stärkerer Milchfluss gemessen wurde als in einer Vergleichsgruppe, die lustige Gags betrachtet hatte.

"Die Seele des Kindes in den Händen tragen"

Doch was ist mit Ehrfurcht in der Erziehung? Traditionell zielte diese darauf ab, in Kindern Ehrfurcht zu wecken, zumal vor Gott. Nach wie vor schreiben dies Gesetzestexte vor, beispielsweise Artikel 131 der Bayerischen Verfassung, gemäß dem "Ehrfurcht vor Gott" das erstgenannte der "obersten Erziehungsziele" ist. Kinder, die Ehrfurcht empfinden können, sind demnach wünschenswert -und scheinen ohnehin die Regel: Das weiß jeder, der am 5. Dezember als Nikolaus unterwegs ist und sieht, wie sich die Pupillen weiten, die Münder sich leicht öffnen.

Aber grundlegender ist die Ehrfurcht vor dem Kind, worin die engagierte Reformpädagogin Ellen Key das Herz der Erziehung sah: "In Ehrfurcht die Seele eines Kindes in den Händen tragen, vor seiner Hoheit die Stirne in den Staub beugen." Ebenso Rudolf Steiner, der schon in jungen Jahren mit der Mitherausgabe von Goethes Werk betraut wurde, der Ehrfurcht so meisterhaft schilderte, speziell in der Gestalt Montans, des ehrfürchtigen Forschers in "Wilhelm Meisters Wanderjahre". In seinen Reden über Erziehung sagte Steiner: "Wie überkommt einen da eine ungeheure Ehrfurcht vor dem werdenden Menschen." Nichts mehr hinzuzufügen ist einer weiteren, prägnanten Formulierung: "Das Kind in Ehrfurcht empfangen, in Liebe erziehen, in Freiheit entlassen."

Der Autor ist Professor für Religionspädagogik an der Uni Salzburg und Präsident der Pädagogischen Werktagung.

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