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Von der Ehrfurdit

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En Stifters berühmter Vorrede zu den „Bunten Steinen“ lesen wir: „Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das. Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen . . . Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar.“ Und weiter: „Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“

Die Weisheit des Alters gewinnt hier in einem Akt andächtigen Erkennens wieder, was die weltansdiauliche Unschuld des mythischen Kindesalters als selbstverständliche Gabe des Ewigen besessen hat: die Ehrfurcht. Nur liegt diese Ehrfurcht am anderen Ende des Weges, nunmehr errungen im flutenden Sonnenlicht menschlicher Erkenntnis und geadelt durch freiwillige Setzung. Und in der Tat, jene „Andacht zum Kleinen“, jene männliche Demut, die allem Seienden Gereditigkeit widerfahren laßt, die imstande ist, das „Kleine“ in der Hingebungsfähigkeit des ergriffenen Herzens bedeutsam zu machen und ihm dadurch erst Existenz, Dauer zu verleihen, sie ist der Anbeginn aller schöpferischen Größe. Goethe hatte in reichem Maße jene Kraft, alles, auf dem sein klares Auge ruhte, bedeutsam, unverlierbar zu machen. Und was ist der Nährboden dieser Kraft, die seit hundert Jahren zur Auseinandersetzung herausfordert, anderes als der „heilige Ernst“, die Ehrfurcht?

Kein großer Künstler ist denkbar ohne andächtige Ehrfurcht, ohne liebevolles Versenken in alle Kreatur. Vor dieser Ehrfurcht bekommt das Kleine, das Unscheinbare Sinn und Gestalt, sie läßt allem Menschlichen Gerechtigkeit widerfahren und beugt sich in demütiger Ergriffenheit vor dem Urgrund alles Seins. Die Ehrfurcht macht aus dem Neugierigen den Forscher, aus dem Wundersüchtigen den Gläubigen, aus dem Begierigen den Liebenden, aus dem kollektiven Massenmenschen die Persönlichkeit und aus dieser wieder den verantwortungsbewußten Mitmenschen; und nur der Ehrfürchtige sieht in jedem Menschen ein „Kleinod für alle anderen Menschen“.

Ehrfurcht trennt und bindet. Ehrfurdit vor uns selbst verleiht uns ein Gefühl der Würde der Persönlichkeit, macht somit eigenständig, aber dieselbe Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des anderen macht gerecht und- duldsam und damit erst riditig gemeinschaftsfähig; denn welch edleren und dauerhafteren Kitt einer Gemeinschaft könnte man sich denken als Gerechtigkeit und Duldsamkeit! Ja, die Ehrfurcht ist Beleg und Ausweis menschlicher Würde und menschlicher Größe.

Haben wir sie noch?

Ich wage diese Frage nicht eindeutig zu verneinen, aber auch nicht voll zu bejahen. Ist nicht die Geistes-, Kultur- und Sittengeschichte der neueren Zeit ein ständiger Kampf der Ehrfurcht mit der Ehrfurchts-losigkeit? Oder hat diese Gegensätzlichkeit seit eh und je Dynamik und Rhythmus der Geschichte bestimmt? Wie dem auch sei, fest steht, daß der moderne Mensch der Gefahr der Ehrfurchtslosigkeit, der Hybris, viel mehr ausgesetzt ist, als es der mittelalterliche, metaphysisch gebundene Mensch war, und der einseitig fachlich orientierte Mensch eines mechanistischen Zeitalters ihr leichter zum Opfer fällt als der harmonisch durchgebildete Mensch einer humanistischen Epoche. Einzelne Ehrfurchtslose hat es zu allen Zeiten gegeben, was aber neu ist, ja geradezu ein Kennzeichen unserer Zeit ausmacht, ist die Tatsache, daß heute breite Massen ohne jede Bindung an ein Höheres — denn dahin führt ja schließlich die Ehrfurcht — dahinleben. Und da muß man sagen, sie sind ehrfurchtslos nicht so sehr aus einer gewissen Frivolität des zügellosen Geistes heraus, sondern deshalb, weil ein seelenloses System — ein Ergebnis mechanistischer Entwicklung und wieder Ehrfurchtslosigkeit — sie um ihre Persönlichkeit betrogen hat und weil sie, dadurch um ihre Hingabefähigkeit gebracht, nichts Ehrfurchtgebietendes mehr erkennen und anerkennen können.

Ehrfurcht bedeutet Maß, und Ehrfurchtslosigkeit macht blind für alles Maß. Maßlosigkeit hinwieder ist für den einzelnen und für die Gemeinschaft das, was Blutzersetzung für den Organismus bedeutet. Wir haben es ja mit allen Fieberschauern erleben müssen. D i e Sünde Adolf Hitlers, das darf man wohl sagen, war die Ehrfurchtslosigkeit. Da gab es doch nichts, kein menschliches und kein göttliches Gesetz, an dem ehrfurchtslos zu rütteln er sich nicht zutraute. Und die „Gesetze“, die er gab, entsprangen einer materialistischen Ehrfurchtslosigkeit. Ein Mensdi)lle nicht mehr verehren kann, dem keine männliche Demut das Herz erhebt und adelt, ein Mensch, der keine Ehrfurcht kennt, der bringt kein Heil, dem ist auch die Größe versagt.

Die Ehrfurcht verträgt keine Theateraufmachung. Ehrfurcht ist nicht Pose, Ehrfurcht ist Haltung. Sie äußert sich schlicht im Benehmen von Mensch zu Mensch, in Scheidung und Duldung, in der unscheinbaren Werkstreue des Alltags; sie ist aber auch die Voraussetzung für jedes Werterkennen und für jeden Wertmaßstab und somit die eigentliche Beglückerin der Menschheit, jener Menschheit, die immer dann am meisten ihrer Größe und Glückfähigkeit sich bewußt wird, wenn sie sich in letzter Ehrfurcht vor dem Throne Gottes neigt, dem Urgrund aller Werte.

Ehrfurcht ist eine männliche Tugend. So wie die Liebe eine weibliche Tugend ist. Beide kommen sie vom Herzen. Alles einseitig emporgezüchtete Denken läuft Gefahr, den mythischen Urgrund der Ehrfurcht zu verlieren. Bewahren wir uns bei aller Geistigkeit die Schwingkraft des ergriffenen Herzens, das starke, ungebrochene Gefühl, denn alles Große kommt vom Herzen. Bleiben wir demütig, auf daß die Ehrfurcht und das Ehrfurchtgebietende uns nicht entschwinde! Denn nur in Ehrfurcht können wir vor dem Leben bestehen, können wir ibm mit allen seinen „Kleinigkeiten“ Sinn verleihen. Diese Sinngebung ist unser höchster menschlicher Beruf, ist unser größtes irdisches Glück — das Unterpfand von des Menschen ewiger Würde.

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