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Nach dem Zusammenbruch

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Das Wort Kultur' wird bekanntlich aus dem lateinischen cultura abgeleitet, das vom Zeitwort colere, das heißt „pflegen, behüten, verehren“, gebildet wird. Vielleicht gehört auch unser Wort „pflügen“ in diese Wortsippe. Auf jeden Fall ist die Kernbedeutung von „Kultur“ d a s G e p f 1 e g t e, Geordnete, im Gegensatz zum Ungepflegten, Ungeordneten, Chaotischen. Mag es sich da um Bodenpflege (Agrikultur), um Körperpflege (Körperkultur), um geordnete Waldpflanzungen, die man ja auch „Kulturen“ nennt, oder um Kirche, Literatur, Kunst, Musik, Theater usw. handeln, immer ist es „gepflegte Fonm“, immer ist es — Ordnung.

Immer ist Kultur Ordnung, ja, aber nicht jede Ordn ung i s t „Kult u r •“, ein nach der Schnur „ausgerichtetes“ Regiment Soldaten, eine streng arithmetische oder' geometrische Reihe, ein von der Maschine in haargleichen Flächen geformtes Drahtgitter, ein Eternitdach oder dergleichen, das und noch vieles andere sind zwar geordnete Gruppen und Formen, aber als „Kultur“ kann man sie doch nicht bezeichnen.

Es muß noch etwas anderes hinzukommen, damit von „Kultur“ geredet werden kann. Vielleicht trifft auch hier das Goethe-Wort das Richtige: „Gepflegte Form, die lebend sich entwickelt“! Das heißt also wohl geordnete, aber nicht starr organisierte, sondern lebend entwickelte, organisch wachsende Ordnung und Formung des Daseins.

Solche lebend entwickelte „organische“ Ordnimg ist dem Menschen gelehrt durch Mächte von Gottes Gnaden: Ein Blick in den Sternenhimmel ruft in jedem nur halbwegs empfänglichen Menschenherzen Ehrfurcht hervor. Wie oft befiel einem in den bösen Zeiten, die wir durchlebten, da auf Erden alle Ordnung zerstört und in höllisches Chaos verwandelt schien, bei einem Aufblick in den gestirnten Himmel die tiefe Schönheit des Grillparzer-Wortes:

„Kennst Du , das Wörtlein Ordnung, junger

Mann?

Dort oben wohnt die Ordnung, dort

ihr Haus.

Hier unten eitle Willkür und Verwirrung.“

Doch nicht von den Sternen allein kann und soll der Mensch Ordnung lernen. Auch in jedem Organismus, man denke nur an den wunderbaren Bau der pflanzlichen, tierischen und menschlichen Leiber, auch da herrscht überall wunderbare Ordnung von Gottes Gnade.

Neben den schöpferischen Ordnungen aus göttlicher Allmacht kann freilich jede menschliche Ordnung und damit alles, was wir „Kultur“ nennen, nur wie ein schwacher Abglanz wirken. Aber auch der Abglanz ist ein Glanz, wenn er nur aus Ehrfurcht kommt und aus der Zucht lebendiger Ordnung. Denn letzten Endes wurzelt auch jede menschliche Ordnung in G o.t t, ob sie nun Kirche, Reich oder Staat, Recht oder Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst oder wie immer heißen mag. Sie alle können Kultur bringen oder doch tragen, aber nur, wenn sie selber von Kultur, von lebendiger Ordnung erfüllt sind. Dies gilt auch für die „kleinen“ Dinge des Lebens: jede gute und wohl geordnete, gesund und echt aus ihrer Art erwachsene Bauernstube

Jränn „Kultur“ haben. Jeder huzufische Hirte und jeder Indianer oder Bantuneger kann Kultur haben, wenn er eine Kulthandlung, eine Geburt, eine Hochzeit oder ein Begräbnis in der ihm vererbten, lebendig gewachsenen und von Generationen geprägten Form begeht. Gar; oft findet man unter solchen „kulturlosen Naturvölkern“ viel mehr „Kultur“, als in einem überzivilisierten, erfahrenen und aus der lebendigen Ordnung geratenen „Kulturvolk“. ,

Menschliche Kultur liegt lediglich in der gesund gewachsenen und gesund gebliebenen äußeren und inneren Ordnung des Einzelmenschen und der Menschengruppe. Ein Proletarier — nicht aber ein „Prolet“! — kann Kultur haben, das heißt gut in sich geordnet sein — was nicht dasselbe wie „glücklich“ zu bedeuten braucht. Aber auch mancher Aristokrat oder Universitätsprofessor kann ein Mensch ohne Kultur, ein in sich ungeordneter, herzloser, roher Kerl sein. Wo Lieblosigkeit, Unordnung oder gar Roheit und Haß herrschen, kann es keine Kultur geben. Das gilt ebenso für Menschen und Menschengruppen, wie auch für Zeiten.

Kultur ist weniger an Rassen oder Nationen, als an den herrschenden Zeitgeist gebunden. Wo dieser gut, innerlich klar geordnet und von einer edlen Idee getragen ist, da wächst Kultur. Wo das nicht der Fall ist, da verfällt sie und entartet schließlich in „Stillosigkeit“, wozu auch der Mangel an „Lebensstil“ gehört, und wenn keine Rettung kommt, in — Chaos.

Wo Kultur herrscht, herrscht auch Stil, mag dieser griechisch, chinesisch, indisch, peruanisch, oder romanisch, gotisch, Renaissance, Barock, Rokoko oder Biedermeier heißen. Wo diese Zeiten innerer Ordnung auf ihrem Höhepunkt stehen, da ist alles und jedes vom Stil des betreffenden Zeitgeistes erfüllt. Man lese .Briefe aus der Biedermeierzeit und man wird sehen, wie sie alle in Form und Inhalt, in Schriftzügen und in der Gedankenwelt erfüllt sind vom Geiste und von der Kultur jener Zeit.

Gewiß, man kann Zeitgeist und damit Kultur nicht „machen“, sie müssen wachsen. Aber das hängt nicht zuletzt davon“ ab, ob die guten Arbeiter sich ernstlich mühen. Nicht „romantische Sehnsucht nach der guten alten Zeit“ tut es, sondern nur der ernste Will und das aufopfernd* Mühen der Guten erreicht es, daß Gott uns „Sein Antlitz wieder zuwendet“, daß er seine Gnade wieder über uns leuchten läßt, ohne die kein guter Zeitgeist und keine Kultur werden können.

Es ist lediglich aus der Sattheit einer von „securitas“, von gesichertem* Lebensgefühl getragenen Zeit erklärlich, wenn Ethnologen oder Völkerpsychologen des 19. Jahrhunderts lehrten, „die Menschen seien im ganzen zu aUen Zeiten gleich gut und gleich schlecht“. Heute würde das keiner mehr zu sagen wagen, und niemand wird heute mehr bertreiten, daß der „Zeitgeist“ etwa zur Zeit Maria Theresias, Mozarts und Haydns oder Schillers und Adalbert Stifters nicht weitaus besser gewesen sei, als der schon seit Jahrlehnten aufwuchernde und noch lange nicht überwundene böse Zeit-gist des bisherigen 2 0. Jahrhunderts! — Das ist ja auch die Ursache, warum wir keinen Stil und keine Kultur haben, sondern nur noch eine — im letzten Jahrzehnt ebenfalls arg zerstörte — Zivilisation. Dennoch sollen wir nicht verzagen. Das Böse ist, wenigstens im Herzen Europas, schwer niedergebrochen und die Zeit ist gekommen, wo die guten Arbeiter wieder Fuß fassen können. Und es gibt deren nicht wenige. Freilich, zuerst muß jeder bei ich selber anfangen, in seinem engsten Kreis guten Weizen pflanzen, damit, du Heer der Gutgewillten allmählich Legion werde.

Nicht dort wächst Kultur, wo es „Glück“ gibt, sondern umgekehrt, dort wächst und mehrt sich „Glück“, wo es Kultur gibt. Nicht das Glück, sondern das Leid ist die Mutter eines besseren Zeitgeistes. Aus den Leiden der ersten christlichen Jahrhunderte erblühte der Welt die christliche Kultur, aus den Leiden der Renaissancezeit bahnten die Besten unter tausend Schmerzen (man lese Michelangelos Briefe) die Wege nach oben, aus den Leiden der Türken- und Glaubenskämpfe erwuchs die Barock-, aus den Leiden der napoleonischen Kriege (man lese Erzherzog Johanns Tagebücher), die Biedermeierkultur! Und wenn ich auf die sechs Jahrzehnte meines bewußten Lebens zurückschaue, so weiß ich, daß wir im alten großen Österreich — an dem wir alle zu nörgeln hatten — eine wirklich glückliche Zeit gelebt

haben, aber ich weiß heute auch, wie schon

damals der böse Sämann sein Unkraut in die Herzen säte, indem er den Menschen die Ehrfurcht nahm. Gerade die früher erwähnte securitas benutzte er dazu, upd führte die Menschen zu Unzufriedenheit, Frivolität und Haß. Und alles, was wir dann erlebten, führte schließlich immer mehr zu dem, was der sozialdemokratische Wiener Staatstheateaoräsident Adolf Vetter schon vor Zwanzig Jahren mit Recht als „Eiszeit der Kulturzertrümmerung“ bezeichnet hat. Die Stillosigkeit in der Kunst, die Verschandelun der Heimat durch protziges, kitschiges Bauen, das ohne jedej Verständnis und ohne je“3e Ehrfurcht vor dem Gewachsenen und Gewordenen war, die Frivolität, Laszivität und schließlich

Perversitlt' in Literatur, Theater und Film

brachte trotz ernster Gegenversuche — Kunstwart, Dürerbund, Heimatpflege, Jugendbewegung — immer größere Legionen des Ungeistes und Hasses auf den Plan, die Gottlosigkeit ward zur Mode und die Lieblosigkeit gegen soziales Elend machte das Maß voll. Und als man sich endlich so weit verstieg, eine neue „Kultur“ — welcher Widersinn! — durch „Drill“ zu schaffen, brach alles zusammen, und ungezählte Denkmäler der alten Kultur gingen in Trümmer. Die „Gleichschaltung“ — abermals welcher Widersinn — erfaßte auch viele geistige Bewegungen, darunter leider auch die deutsche Jugendbewegung, die uns einst als eine ganz große Hoffnung erschienen war.

Am Ausgangspunkte cteser und aller

früheren Kulturzertrümmerungen aber stand niemals das Leid, sondern viel mehr das, was man gemeinhin „Glück“ nennt: Sattheit, securitas, Reichtum. Für die Zeit, die wir älteren durchlebt haben, weise ich in diesem Zusammenhang auf die erschütternde Darstellung eines hochstehenden Zeitgenossen, des Dichters Max Halbe hin, der im zweiten Band seiner Lebensgeschichte, die er „Jahrhundertwende überschreibt, die protzige Sattheit jener Zeit vor dem ersten Weltkrieg, der „Zeit des deutschen Sekts“, aber auch ihre innere Fäulnis, schildert. Wie wahr wird einem auch da wieder das Heilandswort: „Eher wird ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher (Satter) ins Himmelreich gehen.“

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