Religion ohne Glauben?

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Eine Provokation gegen die Belanglosigkeit des Glaubens.

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Eine Provokation gegen die Belanglosigkeit des Glaubens.

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Der Stuhl der Religion bleibt in der modernen Politik leer, wird allenfalls von falschen Messiassen besetzt. Wenn heute - frei nach Walter Benjamin - der Kapitalismus und andere Heilsbringer als Religion herhalten, dann stellt Thomas Ruster, Professor für Systematische Theologie in Dortmund, "die Ausübung der Funktionen einer Religion durch das Christentum und schließlich es selbst in seiner Existenz als Religion in Frage": In der renommierten Reihe "Quaestiones disputatae" des Herder-Verlages trägt Ruster dazu den Band "Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion" bei.

Ruster geht zunächst von der Unmöglichkeit aus, eine konsensfähige Definition von Religion anbieten zu können. Dann aber präsentiert er sie doch als "Beziehung zur Unbedingten Realität (ultimate reality)". Religion wird allgemein verstanden als Begegnung mit dem Heiligen und die Reaktion darauf, der Bezug auf eine letzte, unverfügbare Wirklichkeit. Da nun in der Postmoderne auf dem religiösen Markt vielfältige Angebote bestehen, möchte Ruster das Christentum davon ausgenommen wissen.

Zur Entfaltung seiner These zeichnet er zwei unterschiedliche, konträre Linien des vertrauten und des fremden Gottes durch die Theologiegeschichte von den Anfängen des Ersten Testaments bis in unsere Tage. Den vertrauten Gott findet er zum Beispiel beim Kirchenvater Justin, bei Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin, bei Carl Schmitt und dem Kapitalismus als Religion; der fremde Gott kommt in der Tempel- und Kultkritik der Bibel vor, bei Blaise Pascal, bei Martin Luther.

Was ist damit gemeint? Der vertraute Gott passt ins jeweilige politische, gesellschaftliche, ökonomische System, ihm begegnet man dort in der Alltagserfahrung. Der fremde Gott liegt quer, bedeutet Ideologiekritik, ist alles andere als selbstverständlich. Nur dieser fremde Gott bietet dem christlichen Glauben heute die Chance, aus seiner Belanglosigkeit aus- und aufzubrechen.

Als unmittelbare Konsequenzen aus dieser These, die der gelernte Theologe schon vom Protestanten Karl Barth kennt, kritisiert Thomas Ruster das sogenannte Korrelationsprinzip, das mindestens ein Jahrzehnt lang jedem Theologiestudierenden quasi als Dogma beigebracht wurde: dass nämlich Alltagserfahrung und Glaubenserfahrung einander zu entsprechen haben. Und er kritisiert scharf die pluralistische Religionstheologie als unbrauchbaren Ansatz.

Dem Rezensenten, seit zwanzig Jahren begeisterter Religionspädagoge, bleiben trotz aller Faszination über die These Rusters ernste Fragen: Ist Religionskritik ohne Wenn und Aber mit Götzendienstkritik gleichzusetzen? Wird damit nicht durch die Hintertür ein neuer Absolutheitsanspruch des Christentums eingeführt, (auch wenn er zumindest dem Judentum ausdrücklich ähnliche Gedanken zugesteht)?

Kann ich die Alltagserfahrung von Gläubigen und Ungläubigen, Schülern und Studenten so einfach überspringen? Kann und soll man sich weiterhin als "Religionslehrer" bezeichnen?

Der verwechselbare Gott.Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion. Von Thomas Ruster. Verlag Herder (Quaestiones disputatae, Band 181), Freiburg 2000. 223 Seiten, brosch.öS 291,-/e 19,72

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