Von der Rache zur Caritas

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Postmoderne Religion: Über Gott zu reden, wenn sich der Glaube an zweifelsfreie Tatsachen auflöst. Zu Gianni Vattimos Interpretation des Christentums.

Seit alters her verstand sich die Philosophie als Suche nach unumstößlichen Wahrheiten. Das Ideal des philosophischen Denkens bestand in der gewissen, objektiven Erkenntnis der ersten Gründe, da man sich erhoffte, aus dem ersten Grund die gesamte Wirklichkeit ableiten und damit verstehen und beherrschen zu können. Im christlichen Mittelalter wurde der erste Grund dann mit Gott identifiziert und dieser wiederum als "höchstes Seiendes" definiert. Allein schon der Ausdruck "höchstes Seiendes" verrät allerdings das Problem, das ein solches Verständnis von Gott als erster Ursache aufwirft: Wenn man Gott als Wirkursache der Dinge begreift, dann wird Gott auf dieselbe Ebene wie die Dinge gestellt und zu einem objektiv erkennbaren Gegenstand degradiert.

Dem gegenüber vertritt die philosophische Postmoderne die These, dass es keine objektiv erkennbaren zeitlosen Wahrheiten gibt, sondern dass wir akzeptieren müssen, dass alles, was wir erkennen können, immer schon geschichtlich geworden und vermittelt ist. Überraschenderweise führt diese Absage an ewige Wahrheiten in der Postmoderne zu einer Wiederbelebung des religiösen Diskurses, insofern mit der Absage an objektive Tatsachen auch "der Gott der Philosophen", sprich der gegenständliche Gott der Tradition, unhaltbar wird. Damit aber wird ein neues, nicht mehr am Ideal der Tatsächlichkeit ausgerichtetes Gottesbild möglich, dass dem persönlichen Gott des Christentums näher ist, als das "höchste Seiende" der Tradition. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Thematik hat der italienische Philosoph Gianni Vattimo (geb. 1936) geleistet.

Aristoteles und Paulus

Vattimo, der bei Hans-Georg Gadamer studierte, jahrelang in Turin zunächst Ästhetik und dann Theoretische Philosophie lehrte und nun für die postkommunistischen "Democratici di Sinistra" im Europaparlament sitzt, hat innerhalb der Postmoderne das Konzept eines "Schwachen Denkens" entwickelt. Inhalt dieses Konzeptes ist die "Auflösung des Objektivitätsmythos", das heißt des Glaubens an zweifelsfrei erkennbare Tatsachen. Dass in diesem Zusammenhang das Christentum für Vattimo eine entscheidende Rolle spielt, kann nicht genug betont werden. Ja, Vattimo sieht in der Botschaft des Christentums die (geheime) Quelle der postmodernen Philosophie. Beweis hierfür sind seine Bücher, wie "Glauben - Philosophieren" oder der zusammen mit Jacques Derrida herausgegebenen Sammelband "Religion".

Worum geht es beim Konzept des "Schwachen Denkens"? Im Kapitel "Religion" seines Werkes "Jenseits der Interpretation" erläutert Vattimo dieses Konzept als die Verbindung zweier Sätze der Tradition: des Aristotelischen "das Sein wird auf vielerlei Weise ausgesagt" (Metaphysica IV, 2, 1003a 33) und des Paulinischen "Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten" (Hebräerbrief 1, 1-2).

Von der schwachen Wahrheit

Der Satz des Aristoteles von den vielfältigen Weisen, in denen das Sein gesagt wird, gilt Vattimo als Anfang jener hermeneutischen Philosophie, die nicht mehr nach dem Ansich der Dinge sucht, sondern erkannt hat, dass sich die Wahrheit nur in ihren Interpretationen gibt. Zur Veranschaulichung: ein Musikstück ist nicht identisch mit der Partitur. Erst die "Interpretation", nämlich die jeweilige Aufführung, ist das Musikstück. Den Hinweis des Paulus auf die vielfältige Geschichte des Redens Gottes zu den Menschen wertet Vattimo als Einsicht in die unhintergehbare Geschichtlichkeit und Bedingtheit aller Interpretationen.

Aus der Verbindung beider Sätze ergibt sich Vattimos Konzept einer pluralen, das heißt schwachen Wahrheit, die ihr Kriterium allein in der geschichtlichen Überlieferung hat. An die Stelle an- sich-seiender "ewiger" Wahrheiten tritt die Tendenz zur Schwächung, die Vattimo nun in seiner Interpretation als Grundzug der Geschichte auszuweisen sucht: "Obwohl die Idee einer mit einem globalen Sinn ausgestatteten Geschichte zu Recht kritisiert wurde, meine ich, dass wir auf eine bestimmte Idee eines Sinnes der Geschichte nicht verzichten können, auch wenn eine solche Idee heute nur mehr als Paradoxon formuliert werden kann, in dem Sinne, dass die Bedeutung dessen, was sich ereignet, eben in der Tendenz zur Auflösung eines globalen Sinnes der Geschichte besteht. Diese Einsicht bedeutet nun aber nicht nur [...] Sinnverlust, sondern enthält ebenso konkrete Sinnmöglichkeiten. Auf dem Boden der Einsicht, dass sich der Sinn, die großen dogmatischen Glaubenssysteme, die großen metaphysischen Horizonte auflösen, können wir Entscheidungen treffen und unsere Existenz dieser Tendenz gemäß einrichten." (Vattimo, Filosofia al presente, 14)

Gottes Selbsteinschränkung

In dieses Bedenken der eigenen geschichtlichen Herkunft als dem einzigen verbleibenden (schwachen) Kriterium in einer Epoche, in der es keine ewige Wahrheit mehr gibt, fügen sich Vattimos Ausführungen zum Christentum ein. Dieses interpretiert Vattimo in erster Linie als Offenbarwerden der Kenosis Gottes. Die Kenosis, das heißt die Selbsteinschränkung oder Selbstentäußerung Gottes, so Vattimo, sei der Hauptzug des Christentums. Vattimo glaubt, das Christentum als frühen Appell an die Abwendung von den "starken" Strukturen des Denkens und als erste Hinwendung zu "schwachen" Prinzipien deuten zu können. Er schreibt: "Die Menschwerdung, das heißt die Erniedrigung Gottes auf die Ebene des Menschen, dasjenige, was das Neue Testament die Kenosis' Gottes nennt (Philipperbrief 2,7), muss als Zeichen dafür verstanden werden, dass der Hauptzug des nicht gewalttätigen und nicht absoluten Gottes der post-metaphysischen Epoche in eben dieser Tendenz zur Abschwächung liegt, von der die von Heidegger inspirierte Philosophie spricht." (Vattimo, Glauben - Philosophieren, 34)

Für Vattimo ist der Gott der Tradition in erster Linie immer noch die gewalttätige Gottheit der Naturreligionen, in denen Sakralität und Gewalt nahezu identisch sind. Wie für Vattimo die Geschichte des Abendlandes in einer ständigen Schwächung der objektiven (Seins-)Prinzipien besteht, so ist auch die Geschichte der Religion die einer ständig fortschreitenden Entsakralisierung, das heißt Säkularisierung, eine Entwicklung von der rachsüchtigen Gewalt der Naturreligion hin zur christlichen "Caritas".

Absage an den Opferkult

Im Lichte dieses Verständnisses interpretiert Vattimo das Neue Testament als Aufruf wider die gewalttätige Priesterreligion der Riten und Vorschriften. Die Hauptaussage der christlichen Offenbarung sieht Vattimo in der Absage an den Opfer- und Sühnekult, das eigentliche Herzstück jeder Naturreligion, zugunsten der persönlichen Freiheit und des schlichten Gebotes der Nächstenliebe; das heißt "das Wesen der Offenbarung [wird] reduziert auf die christliche Liebe und der ganze Rest anheimgegeben der Unbestimmtheit der verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen, auch Mythologien, die den einzelnen geschichtlichen Menschheiten jeweils als bindend' erschienen sind." (Ebd., 86)

Könnte man die Religion zunächst für das letzte Bollwerk des Objektivismus halten, so erweist sich das Christentum bei näherem Hinsehen Vattimo zufolge als derjenige Bereich, in dem die radikale Geschichtlichkeit des Seins ausdrücklich "thematisiert" wird, was dem Christentum ermöglicht, der Philosophie zu helfen, die letzten noch verbliebenen objektivistischen Reste endgültig über Bord zu werfen. Vattimo konstatiert somit einen doppelten Zirkel im Verhältnis zwischen der postmodernen Philosophie und dem Christentum. Einerseits stellt sich die Postmoderne als Einlösung der christlichen Botschaft dar, andererseits wird durch die Auflösung des Objektivitätsmythos die Rede über Gott erst wieder möglich.

Der Autor ist Assistent für Philos phie an der Universität Graz.

BUCHTIPP:

GIANNI Vattimo. Einführung.

Von Martin G. Weiß. Mit einem Interview mit Gianni Vattimo. Passagen Verlag, Wien 2003. 256 Seiten, kt., e 29,90

Disputatio

Johann Baptist Metz

vs. Gianni Vattimo

Eine Disputatio über das Verhältnis zwischen Religion und Politik zwischen J. B. Metz, Begründer der "politischen Theologie", und dem Philosophen, Katholiken und EU-Abgeordneten der italienischen Linksdemokraten, Gianni Vattimo.

Dienstag, 20. Mai, 19.30 Uhr,

Meerscheinschlössl,

8010 Graz, Mozartgasse 3;

veranstaltet vom Inst. f. Philosophie der Grazer Kath.-Theol. Fakultät und der Kath. Hochschulgemeinde Graz in Kooperation mit, der "Kleinen Zeitung" und der Furche.

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