Der Mann der Chippendale hieß

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Thomas Chippendale, der im 18. Jahrhundert erlesene Möbelstücke schuf, ist biographisch ein "Mann ohne Eigenschaften".

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Thomas Chippendale, der im 18. Jahrhundert erlesene Möbelstücke schuf, ist biographisch ein "Mann ohne Eigenschaften".

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St. Martin's Lane ist um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine der nobelsten Straßen der Londoner City. Dort hat der geschätzte Porträtist Joshua Reynolds sein Atelier, und 1753 etablierte sich in der Nähe ein Handwerker: Thomas Chippendale aus Yorkshire, Sohn eines Tischlers, dessen Nachfolge er auch beruflich antrat. Aber der Mitdreißiger hat weit höhere Ambitionen als einst der Vater. Er will nicht bloß Möbel für den normalen Bedarf herstellen, sondern erlesene Stücke bester Qualität für hohe ästhetische Ansprüche schaffen.

Der Adel auf seinen Landsitzen und die Gesellschaftsschicht, deren Reichtum aus dem Seehandel und den Kolonien stammt, sichert ihm a priori jenen Kundenkreis, an den er sich wenden möchte. Sein Name wird in der Wohnkultur ein Begriff und gewinnt über die Epoche hinaus bleibende Bedeutung.

Die Person selbst tritt zurück. Biographisch ist Chippendale fast ein "Mann ohne Eigenschaften". Er hinterläßt nur die Signatur seiner Tätigkeit, aber keine ablesbare Schicksalskurve und kaum ein Charakterbild. Übrigens auch kein Porträt. Nach seinen Initiativen zu schließen, war ihm aber ein für seine Karriere sehr wichtiger Wesenszug gegeben: ausgeprägter Geschäftssinn, verbunden mit dem Talent, die Chancen richtig einzuschätzen.

Anno 1754 publiziert er ein Album unter dem Titel "Gentleman and Cabinet-Maker's Director". Eigentlich ein Katalog von Möbelstücken, doch bibliophil gestaltet. Der Preis des Werkes ist ungewöhnlich hoch, dennoch geht Chippendales Kalkulation auf.

Es findet seine Interessenten und erreicht, mit beträchtlich erweitertem Illustrationsteil, mehrere Auflagen. Auch auf dem Kontinent als Vorlage verwendet und immer wieder nachgedruckt, ist es eine der reizvollsten Sammlungen von Bildern zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts.

Stilistisch ist damals für englische Möbelstücke neben dem Rokoko französischen Ursprungs der "Chinesische Geschmack" groß in Mode, im Einklang mit den Chinoiserien der Raumkunst. Und mit der Wiederentdeckung des Mittelalters durch Einzelgänger wie Horace Walpole kündigt sich in der "Gothic revival" bereits der Historismus an.

Chippendales Musterbuch und die Erzeugnisse seiner Werkstätte tragen diesen Strömungen Rechnung. Er stellt die Pariser Manier, die Paraphrasen aufs Ostasiatische und die Entlehnung aus der englischen Vergangenheit zur Auswahl, in manchen Entwürfen trachtet er auch nach Verbindung solcher verschiedenartiger Formen.

Sein bevorzugtes Material ist das Mahagoni, dem er raffinierte ornamentale Wirkungen zu verleihen weiß. Da Michael Thonets Verfahren des Bugholzes damals noch in ferner Zukunft liegt, bleibt alles der Handarbeit mit dem Schnitzmesser überlassen.

Thomas Chippendales vielfältiges Repertoire beeinflußt bis heute die Fertigung von "Stilmöbeln". Er ist der Erfinder der in der Linienführung so eleganten Stühle und Sitzbänke, die uns traditionsgebunden aber bereits zeitlos erscheinen.

Außer Phantastik und luxuriöser Ausstattung gibt es in seinem Legat an die Nachwelt aber auch schlichte, ja betont funktionelle Stücke Schreibtische - etwa die wohl sogar vor den Augen des geschworenen Ornamentfeindes Adolf Loos bestanden hätten.

Markantestes Kennzeichen dessen, was man jetzt Chippendale nennt, sind freilich die Gitterflächen aus Rohrgeflecht, die er in die Rahmen von Lehnen einfügt. Für die Dame kreiert er den Möbeltypus des Frisiertisches, in späteren Jahren nähert er sich dem Louis Quinze-Stil an. Auf seinem Gebiet ist er ein Meister, der die Kunst der Variation zum Virtuosentum steigert.

1779 stirbt er in London. Der Ruf und Rang des führenden englischen Möbelgestalters, den er zu Zeiten dioskurenhaft mit George Hepplewhite teilen mußte, geht auf ein jüngeres Talent namens Thomas Sheraton über. Erhaltene Originale aus Chippendales Werkstätte sind nun Kostbarkeiten in Museen und Schlössern der britischen Inseln.

Furche-Serie, Teil 8: Hinter dem Begriff: ein Mensch Gunther Martin stellt in loser Folge Personen vor, deren Namen als Begriff fast alle, deren Biographie aber nur wenige kennen.

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