Die vergessene Kronprinzessin

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Stephanie von Belgien, die Frau von Kronprinz Rudolf, der sich mit seiner Geliebten in Mayerling erschoss, lebte noch bis 1945.

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Stephanie von Belgien, die Frau von Kronprinz Rudolf, der sich mit seiner Geliebten in Mayerling erschoss, lebte noch bis 1945.

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Es war der 2. April 1945, der Krieg lag in den letzten Zügen. Die letzte deutsche Offensive am Plattensee war von der Roten Armee gestoppt worden. Tag und Nacht zogen Flüchtlingskolonnen am Schloss Oroszvar vorbei. Dann waren die Russen da. Sie polterten die Stiege hinauf, schlugen gegen die Tür, rissen sie auf, die Maschinenpistole im Anschlag. Doch sie stockten. Denn was sie sahen, verblüffte sie. Eine alte Dame saß im Bett, sah ihnen entgegen und schlug unentwegt das Kreuz, immer das Kreuz. Die russischen Soldaten standen still und starrten. Keiner sprach ein Wort, alle sahen die alte Frau mit den beschwörend erhobenen Händen an. Dann wandte sich einer um und ging zur Tür. Die anderen folgten ihm.

Was sich damals auf Schloss Oroszvar ereignete, war der Beginn des letzten Aktes im Leben der Stephanie von Belgien, ehemalige Kronprinzessin von Österreich-Ungarn, in erster Ehe die unglückliche Gattin von Kronprinz Rudolf, der sich zusammen mit einer seiner Geliebten, Mary Vetsera, in Mayerling erschoss. In zweiter, glücklicherer Ehe war sie 45 Jahre mit Fürst (bis 1916 Graf, erst Kaiser Karl hat ihn nach dem Tod Kaiser Franz Josephs gefürstet) Elemer Lonyay von Nagylonya und Vasaros-Nameny in treuer Liebe verbunden. Stephanie starb vor 55 Jahren in der Benedinktiner-Erzabtei Pannonhalma bei Györ (Raab), ihr Mann überlebte sie um ein knappes Jahr. Er starb 1946 im Alter von 83 Jahren.

Das zweite Leben Mit ihrer zweiten Heirat am 22. März 1900 auf Schloss Miramare hatte auch Stephanies zweites Leben begonnen. Die Lonyays waren uralter, hochangesehener Adel, sie besaßen in mehreren Komitaten Güter im Ausmaß von rund 50.000 Joch. Sie waren diejenigen, die als erste die Aufhebung der Leibeigenschaft beantragt hatten, Elemers Großvater war Mitglied des Pressburger Reichstages, ein Onkel Elemers wurde erster konstitutioneller ungarischer Finanzminister, Ministerpräsident und später österreichisch-ungarischer Finanzminister.

Elemer muss ein ausnehmend gut aussehender Mann gewesen sein - ein Ölbild von Koppay, das ihn in ungarischer Magnatentracht darstellt, befindet sich bis zum heutigen Tag in der Benediktiner-Erzabtei Pannonhalma (deutsch: St. Martin). Stephanie muss sich Hals über Kopf in den feurigen Ungarn, den noblen Grandseigneur mit den gewinnenden Zügen, verliebt haben - für Kaiser Franz Joseph, ihren Ex-Schwiegervater, blieb er Zeit seines Lebens "der ungarische Schafhirt".

Auf der historisch-politischen Bühne hatten die Lonyays seit ihrer Eheschließung nur mehr eine Nebenrolle gespielt. Nach dem Ende der Donaumonarchie waren sie vollends zu Statisten herabgesunken. Aus dem Königsdrama von früher war ein Salonstück geworden, in dem man wie früher beisammensaß und konversierte. Man sprach über die schlechten Zeiten, Elemer Lonyay schimpfte über die Nazis. Aber eigentlich sprach man lieber vom Gestern und Vorgestern. "Von der Vergangenheit spricht man nur vom Schönen", meinte die Fürstin Lonyay.

Stephanie hat auf Oroszvar - fast bis zuletzt - das spanische Hofzeremoniell beibehalten. Sie hatte zahlreiches Personal, wurde täglich mehrere Male umgekleidet und erschien stets zu den Diners in großer Toilette, auch wenn nur ihr Gatte und der Hauskaplan anwesend waren. Auch hatte sie natürlich einen französischen Koch und wurde in der dritten Person Mehrzahl angesprochen.

Und Elemer? Er liebte seine Gattin abgöttisch, hatte nichts gegen den Pomp der Hofhaltung einzuwenden, konnte aber den täglichen überfeinerten Luxusmahlzeiten, die der französische Koch zelebrierte, nur dann entfliehen, wenn Stephanie fallweise einen Tag in Wien war. Er bestellte sich dann den Speisezettel nach seinem Geschmack, ungarisches Gulasch zum Beispiel.

Allmählich wurde es still und einsam um die Lonyays. Sie wurden alt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Stephanie 75 Jahre alt. Menschen, die Mayerling-Bücher lasen und Mayerling-Filme sahen, wussten überhaupt nicht mehr, dass die Gemahlin des Kronprinzen Rudolf noch am Leben war.

Das Jahr 1944 brachte auch noch andere Aufregungen: Vorerst einmal wollten die Deutschen ein Kriegslazarett nach Oroszvar verlegen. Es kam aber nicht dazu, obwohl schon alles so gut wie vorbereitet und mit viel Aufregung für die alte Herrschaft verbunden war. Im Herbst 1944 quartierte sich dann der deutsche Stadtkommandant von Budapest, SS-Obergruppenführer Vesenmayer, in Oroszvar ein. Er kam mit großem Stab, noch größerem Mundwerk und entfaltete eine hektische Geschäftigkeit, natürlich "für den Endsieg". Unter anderem ließ er das Archiv der Lonyays durchstöbern und beschlagnahmte historische Schriften, darunter Originalbriefe des Kronprinzen Rudolf. Die Lonyays mussten sich auf wenige Räume zurückziehen, weil die ungebetenen Gäste den größten Teil des Schlosses in Beschlag genommen hatten. Diesen wurde allerdings dann Ende März 1945 der Boden zu heiß, und sie setzten sich "planmäßig", wie es damals immer noch hieß, nach Westen ab.

Für die Lonyays war es längst zu spät zur Flucht. Stephanie, damals 80 Jahre alt und herzkrank, hatte, als vielleicht noch Zeit dazu gewesen wäre, die Flucht abgelehnt. Schon einmal war sie mit ihrem Mann geflohen - 1919, als Bela Kun in Ungarn die kommunistische Republik ausgerufen hatte.

Diesmal blieben die Lonyays in Oroszvar. Es gab nur noch ganz wenige Dienstboten und zwei Nonnen, die die schwer herzkranke Stephanie pflegten. Der französische Koch war noch bis April 1945 im Hause, dann suchte auch er das Weite. Ende Mai 1945 wurde Stephanie dauernd bettlägrig, Fieber stellte sich ein, und die Aufregungen über das Treiben der Russen setzten dem Herz der Patientin schwer zu. "Schloss Oroszvar war schließlich so ausgeplündert, dass sie nicht einmal mehr Schuhe hatten, als man sie mitsamt der Kammerfrau Ihrer Hoheit auf einem mit Ochsen bespannten Mistwagen nach Pannonhalma brachte", überlieferte Karl Schliessler, ein Bediensteter der Lonyays.

An die Benediktiner-Erzabtei, dieses Zentrum des ungarischen Katholizismus, wagte sich nicht einmal die Rote Armee heran. In den Endtagen des Krieges stand die Abtei unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes und diente vielen Flüchtlingen. Die Lonyays wurden in den Gästezimmern der Prälatur untergebracht.

In aller Stille Stephanie spürte, dass es zu Ende ging. Sie äußerte den Wunsch, in der Unterkirche der Abtei bestattet zu werden, am 23. August 1945 starb sie, 81 Jahre alt und mit den Tröstungen ihrer Religion versehen. Die Frau, die mit königlichen Ehren getauft und getraut worden war, wurde in aller Stille bestattet. Kein Angehöriger des Kaiserhauses, nicht ihre Tochter (Stephanies und Kronprinz Rudolfs Tochter Erzsebet, die "rote Erzherzogin"), nicht die Enkel, geleiteten sie. Nur Elemer Lonyay, die Kammerfrau, die Nonnen und die Benediktinermönche folgten ihrem Sarg.

Das Schloss der Lonyays wird seit vielen Jahren und immer noch renoviert und ist immer noch nicht für Touristen zugänglich. Verschafft sich ein Hartnäckiger dennoch Eintritt, darf er sich kein Relikt der einstigen Besitzer erhoffen. Alles, bis auf ein paar unscheinbare Möbel, die im Schloss Esterhaza (Ungarn) Aufstellung fanden, fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer, wurde geplündert, verschleppt oder vernichtet. Nur die Räume blieben, nichts mehr von der Eleganz, Noblesse und Dekadenz früherer Jahre ist spürbar. Und kaum einer kann sich noch erinnern oder hat je von einer Frau gehört, die hier fast 40 Jahre gelebt hat und die vor rund 100 Jahren Kronprinzessin von Österreich-Ungarn war.

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