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Der Passierschein

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Die Riegel und Sperrketten der Kriegszeit beginnen im Westen und Norden Europas zu fallen. Schon vor einiger Zeit ist der Visumzwang im Verkehr zwischen Belgien, Frankreich und Luxemburg aufgehoben worden, auch zwischen Schweden, Norwegen und Dänemark besteht er nicht mehr; in dem jüngsten Abkommen zwischen England und Frankreidi ist die gegenseitige Beseitigung dieser Paßvorschrift vereinbart und gegenüber der Schweiz sind von England die gleichen Verkehrserkichterungen in Vorschlag gebracht. Von diesen Anzeichen, daß unser Kontinent doch wieder Europa werden will, spürt Österreich bisher leider wenig. Der Österreicher, der vor dem ersten Weltkrieg reisen wollte, setzte sich in einen Zug und fuhr, wohin er wollte. Ein oder zwei Länder waren ausgenommen, aber es handelte sich um Länder, nach denen sich ohnehin niemand sehnte. — Der erste Friede veränderte das Bild: alle Länder errichteten strenge Grenzkontrollen, der allgemeine Paßzwang begann. Trotzdem konnte man wieder für seinen Paß* um irgendeine Stempelgebühr die notwendigen Visa erhalten, in Wien frühstücken und ohne Schwierigkeiten, wenn man wollte, nach einer Flugzeugfahrt in Neapel abendessen. Heute kann der Österreicher schon „etwas erzählen“, wenn es ihm auch nur beifällt, eine Reise tun zu wollen. Um im Inland einen Paß zu bekommen, braucht er Bestätigungen, Befürwortungen, Führungszeugnisse. Und wenn er alles glücklidi beisammen hat, wird das Ansuchen meistens von den Alliierten-Behörden abgelehnt. Aber nicht nur die Ausreise, auch die Einreise nach Österreich ist unter Umständen keine Kleinigkeit. So meldet eine in Amerika erscheinende öster- ' reichische Zeitung unter dem Titel: „Warum ,Except of Austria'?“, daß in jedem amerikanischen Paß folgender Stampiglienauf-druck eingesetzt wird: „Dieser Paß, wenn ordnungsgemäß mit Visen versehen, in für alle Länder gültig, ausgenommen Deutschland, Österreich, die japanischen Hauptinseln Nansei Shoto, Nanpo Shoto oder Korea.“ Für eine Einreise nach Österreich ist eine Extraprozedur nötig.

Doch das ist noch nicht alles. Bis vor kurzem durften die österreichischen Auslandsvertretungen überhaupt keine Pässe ausstellen. Das Ansuchen eines Auslands-öterreichers mußte von der Gesandtschaft dem Innenministerium eingeschickt, von da dem Alliierten-Rat vorgelegt werden, und wenn dann endlich die Genehmigung zur Ausstellung gegeben wurde, war der Zweck der Reise meist schon überholt. Nach langem Verhandeln ist es dann gelungen, den österreidiischen Vertretungen im Ausland die Befugnis zu erhandeln, selbst Passe auszustellen. Die damit beteilten Österreicher haben nun die Möglichkeit, überall hinzufahren, mit Ausnahme von — Österreich. Damit ist der groteske Fall geschaffen, daß ein unbescholtener Staatsbürger mit einem solchen Paß bis an die Grenzen seiner eigenen Heimat Tordringen kann, entlang der Grenzen aber einen eisernen Vorhang gezogen findet.

Trotzdem ist es Tatsache, daß wir in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nach Christi Geburt leben.

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