Jules Massenets "Manon": die Staatsoper im Zeichen der Anna Netrebko.
Anna Netrebko ist der weibliche Superstar der gegenwärtigen Opernwelt. Es liegt in der Natur des Menschen, dass so jemandem nicht nur Verehrung, sondern auch Ablehnung zuteil wird, wobei beides schlüssig begründet werden kann. So bemäkelte etwa das Magazin Bühne quotenwirksam stimmliche Mängel bei Netrebko, die ihre Koloraturen absolviere, "als handelte es sich um Tonleiterübungen"; eine geharnischte Kritik, die das zur News-Gruppe gehörende Blatt mit einem Netrebko-Interview garnierte, das deren Plattenfirma als "Fälschung" bezeichnet. Sicher, es gibt Sängerinnen, die sind technisch versierter oder haben ein reicheres stimmliches Bouquet - doch diese Beckmesserei geht an der Sache vorbei.
Ohne hier einen direkten Vergleich ziehen zu wollen: Maria Callas hatte nicht die schönste Stimme und auch nicht die perfektesten Spitzentöne, doch mit Charisma und dramatischer Intensität machte sie diese vermeintlichen Defizite locker wett. Außerdem wurde sie erst zu der Callas, nachdem sie abgespeckt und sich in eine aparte Erscheinung verwandelt hatte. Bei Netrebko sind es ihre außergewöhnliche Schönheit, ihre erotische Ausstrahlung und ihr Spielwitz, die sie von anderen sehr guten Sopranistinnen abheben und zur Ausnahmeerscheinung machen.
Kein Wunder, dass Jules Massenets Manon an der Wiener Staatsoper ganz im Zeichen der Anna Netrebko steht. Die Geschichte der jungen Frau, die zuerst den Verlockungen der Liebe, dann den Verheißungen von Luxus und Ausschweifung erliegt, ist der russischen Diva wie auf den Leib geschrieben. Sie bezaubert mit ihrem makellosen Gesang und ihrem samtigen Timbre ebenso wie mit ihrer natürlichen Sinnlichkeit und ihren körperlichen Reizen, mit denen sie in schwarzen Dessous wahrlich nicht geizt.
Auf den Leib geschrieben
Da hat es ihr Bühnenpartner von vornherein schwer, außerdem zeigt Roberto Alagna in der Partie des der verführerischen Manon verfallenen Des Grieux deutlich Schwächen in den leisen, lyrischen Passagen. Freilich ist seine Leistung weit davon entfernt, eine Reaktion wie an der Mailänder Scala zu verdienen, wo er jüngst unter dubiosen Umständen von der Bühne gebuht wurde. Keinesfalls unterschlagen darf man Adrian Eröd, der als Manons Cousin mit seinem gepflegten Bariton einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Dieser Lescaut ist unter der Regie von Andrei Serban weniger der Hüter der Familienmoral, denn ein Zuhälter in Polizeiuniform. Überhaupt hat der Regisseur die Handlung in der Unter-und Halbwelt zuerst der dreißiger Jahre, dann der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts angesiedelt. Stücke in die Zwischenkriegszeit zu versetzen gehört momentan zu den beliebtesten Regiekniffen: Schließlich bietet diese Epoche fast alles an Umgangsformen und Geschlechterverhältnissen, was auch heute relevant ist, zugleich aber waren damals noch immer jene archaischen Vorstellungen und Verhaltensweisen verbreitet, die den Opern des 19. Jahrhunderts zu Grunde liegen. Und natürlich brütete jene Zeit den Faschismus aus, aber das ist eine andere Sache.
Für das von der Wiener Opernszene über lange Zeit stiefmütterlich behandelte französische Fach glaubt Bertrand de Billy ein Erfolgsrezept gefunden zu haben: Er erlegt dem Staatsopernorchester - vulgo: Wiener Philharmoniker - bisweilen geradezu teutonische Strenge statt romanischer Raffinesse auf. Das Bestreben, nur ja keine angeblich falsche Sentimentalität aufkommen zu lassen, geht zu Lasten der schäumenden Leidenschaft und der perlenden Leichtfüßigkeit, die der Partitur innewohnen - allerdings traf diese Interpretation durchaus den Geschmack des Publikums. Tosender Applaus für Netrebko, Alagna, Eröd, de Billy und - man höre und staune - für Regie und Bühne.
Geteilte Kritiken
Die Kritiken in den Tageszeitungen sind durchmischt: Der Standard preist Netrebko als "famose Schönklangkünstlerin" und attestiert der Inszenierung "solide, unaufgeregte Konventionalität". Die Presse sieht in der Aufführung ein rein musikalisches Ereignis, lobt de Billy für ein "Meisterstück feinsinnig differenzierten Musiktheaters", die Inszenierung hingegen wird als "Ostblock-Theater", das Bühnenbild als "ungustiös" abqualifiziert.
Noch unterschiedlicher urteilt das internationale deutschsprachige Feuilleton: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zeigt sich regelrecht angewidert vom Hype um Netrebko, die gesanglich viel schuldig bleibe, vermisst beim Staatsopernorchester Klangraffinement und ortet sogar "Oktoberfeststimmung". Die Neue Zürcher Zeitung hingegen ist auf ganzer Linie begeistert und bejubelt einem "Triumph": "Es ist der Abend und das Stück Anna Netrebkos."