Religion mit Nebenwirkungen

Werbung
Werbung
Werbung

Auf dem Flughafen in Istanbul fand ich als einzige deutschsprachige Zeitung Die Welt. Nach einer Woche Nachrichtenabstinenz (weil ich kein Wort Türkisch verstehe und in die Kurdengebiete an der syrischen Grenze keine europäische Sprache vorgedrungen ist) erfuhr ich, dass Bush unbeliebt ist, dass Stoiber das Handtuch geworfen hat und in Frankreich die Autos brennen. Da erstaunte mich auf Seite 8 der Satz eines deutschen Professors zu den französischen Unruhen: Wir haben Glück - unsere Moslems sind Türken.

Das Glücksgefühl des deutschen Professors kommt daher, dass die Türken im allgemeinen keine Fundamentalisten sind, weil sie - Atatürk sei Dank - aus einem säkularen Staat kommen. Dahinter versteckt sich die verbreitete Ansicht: Je weniger Religion, desto mehr Toleranz.

Interessanterweise hatte uns ein kurdischer Buschauffeur, der leidlich Englisch konnte, eine andere Geschichte erzählt: Solange im Osmanischen Reich die gemeinsame Religion Türken und Kurden verbunden hatte, gab es kein Kurdenproblem. Als es damit vorbei war - Atatürk sei Dank -, entdeckten Türken und Kurden, dass sie eigentlich nichts gemeinsam haben, nicht einmal die Sprache. Unterdrückung, Vertreibung, Widerstand und (nicht nur) brennende Autos waren die Folge. Doch in den letzten Jahren haben die Spannungen glücklicherweise abgenommen, meinte der Kurde mit vorsichtiger Freude. Warum? Weil Erdogan, der Ministerpräsident von der islamischen Partei, der Religion eine neue Wertschätzung entgegenbringe.

Größere Toleranz durch mehr Religion? Das ist so richtig wie sein Gegenteil. Religion ist ein hoch wirksames Therapeutikum mit gefährlichen Nebenwirkungen, wenn die sozial verträgliche Dosis überschritten wird. Setzt man das Mittel aber ab, ist erst recht keine Heilung zu erwarten.

Der Autor ist freier Journalist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung