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Folgt man Forschern bis ins Labor, lassen sich große Unterschiede zwischen den Wissenschaften entdecken.

In den 1970er Jahren gehörte Karin Knorr-Cetina zu einer kleinen Gruppe von innovativen Soziologen, die Wissenschaft vor Ort untersuchen wollten - mit dem Ziel, ein realistischeres Bild von Wissenschaft zu bekommen.

Die Furche: Frau Professor, statt von Wissenschaften sprechen Sie gerne von Wissenskulturen. Was zeichnet eine Kultur aus?

Karin Knorr-Cetina: Kulturen entstehen ganz allgemein gesprochen durch Abgrenzung. Und da die Wissenschaften sich immer weiter spezialisieren und immer weniger über die engen Fachgrenzen hinaus miteinander kommunizieren, hat sich heute eine bunte Vielzahl an Wissenskulturen herausgebildet. Dabei ist es nicht so, dass ein Fach mit einer Wissenskultur gleichzusetzen wäre. Die Kernteilchenphysik etwa hat ihre eigenen internen Strategien zur Erzeugung und Validierung von Wissen entwickelt, die sich ganz erheblich von anderen Bereichen der Physik unterscheiden.

Die Furche: In der Teilchenphysik werden wohl genauso theoretische Überlegungen gemacht und Experimente durchgeführt wie in den übrigen Naturwissenschaften. Wo liegt also der Unterschied?

Knorr-Cetina: Teilchenphysiker arbeiten sehr stark mit negativem Wissen. Ich nenne das den apophatischen Ansatz, in Analogie zu bestimmten theologischen Vorstellungen des Mittelalters: Um etwas über Gott zu erfahren - den die Theologen nicht direkt beschreiben durften -, sprachen sie davon, was Gott nicht ist.

Die Furche: Wie kann man sich das bei den Teilchenphysikern vorstellen?

Knorr-Cetina: Ein neues Experiment liefert zum Beispiel ein besseres Ergebnis, wenn man dadurch mehr über die Fehler erfährt. Statt um sieben Fehlerquellen weiß man dann etwa auf einmal um neun. Dieses Wissen um Fehler kann in den folgenden Experimenten berücksichtigt werden. Ebenfalls wichtig sind so genannte Grenzwertberechnungen. Man produziert eine Unzahl von Publikationen, die Grenzwerte berechnen und zeigen, dass bis zu einem bestimmten Grenzwert das, was gesucht wurde, nicht gefunden wurde.

Die Furche: Nicht gefunden? In anderen Wissenschaften ließe sich so ein "Resultat" nicht publizieren.

Knorr-Cetina: Das ist wohl richtig. Bei molekularbiologischen Experimenten etwa läuft auch nicht immer alles glatt. Aber die Wissenschafter dort folgen einer anderen Wissensstrategie. Sie fragen sich normalerweise nicht, warum funktioniert das nicht. Stattdessen ändern sie einfach die Versuchsanordnung ein wenig. Ich habe einmal einen Molekularbiologen darauf angesprochen, warum sie nicht den Fehlern nachgehen. Er meinte, dass lebende Organismen zu komplex seien und die Fehlerquellen zu mannigfaltig, als dass sich vernünftige Hypothesen über Fehler formulieren ließen.

Die Furche: Ein Zeichen von Wissenschaftlichkeit ist bekanntlich, dass Ergebnisse intersubjektiv überprüfbar sind. Nun sind die Experimente der CERN-Physiker im wahrsten Sinne des Wortes oft weltweit einmalig. Wie wird hier Kritik geübt?

Knorr-Cetina: Statt der Kritik von externen Wissenschaftern werden z.B. die so genannten Geschwisterexperimente angelegt, in denen quasi das eine Team das andere kontrolliert - und umgekehrt. Zusätzlich werden Simulationsrechnungen durchgeführt, die mit den experimentellen Daten verglichen werden. Interessant war auch die Beobachtung, dass ältere Wissenschafter den Zahlen prinzipiell skeptischer gegenüberstanden wie jüngere. Erfahrung spielt in der Bewertung von Ergebnissen also auch eine Rolle.

Die Furche: Durch Ihre genauen Beobachtungen haben Sie herausgefunden, dass die Teilchenphysik in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich ist. Aber gibt es nicht etwas, was alle Wissenschaften letztlich eint?

Knorr-Cetina: Was sollte das sein? Weder gibt es eine einheitliche Methode noch eine einheitliche Rationalität. Die Strategie, mit negativem Wissen zu arbeiten, ist ein spezifisches Merkmal der Teilchenphysik. Die Soziologie tut das nicht und die Molekularbiologie auch nicht. Vielleicht gibt es eine andere Wissenschaft, die noch so arbeitet, aber das eint die Wissenschaften dann auch nicht. Meiner Ansicht nach existieren sehr viele und sehr verschiedene Wissenskulturen.

Die Furche: Und trotzdem können die unterschiedlichsten Wissenskulturen über die Fachgrenzen hinaus miteinander in Kontakt treten und sich gegenseitig verständigen.

Knorr-Cetina: Das stimmt. Die Kulturen profitieren genau von der Differenz. So bilden sich zurzeit ganz neue Wissensgebiete - etwa die Neuroimmunopsychologie. Am besten funktionieren solche interdisziplinären Projekte, wenn sie quasi naturwüchsig entstehen. Schlecht ist es, wenn von der Politik Ausschreibungen konzipiert werden, wonach X Partner aus Y Ländern an einem Projekt zusammenarbeiten müssen.

Die Furche: Eine letzte Frage: Wie schätzen Sie heute den Stellenwert Ihres Faches, der Wissenssoziologie, ein?

Knorr-Cetina: Als ich vor rund dreißig Jahren anfing, ins Labor zu gehen und Wissenschaftern über die Schulter zu schauen, war das sehr neu. Heute sind wir ein etabliertes Fach. In den USA etwa gibt es zurzeit eine große Offensive in der Nanotechnologie. Den Nanowissenschaftern wurde dabei ein Soziologen-Team zur Seite gestellt, um aktuelle Entwicklungen zu reflektieren. Manche mögen das als bloße Alibiaktion der Politik abtun, die dazu dient, eventuell vorhandene Vorurteile und Ängste zu zerstreuen. Im besten Fall aber leistet die Wissenssoziologie einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft, indem sie Orientierungswissen schafft. Auf der Basis von diesem Wissen können langfristige Visionen entwickelt und politische Entscheidungen getroffen werden.

Das Gespräch führte Thomas Mündle.

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