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Alkoholteufel im Arbeiterparadies

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Mit einigem Rückstand hinter den bürgerlichen Staaten hat nun auch die volksdemokratische Tschechoslowakei die Gefahren und Nachteile des Alkoholismus bemerkt. Es scheint, daß die Verantwortlichen durch einige statistische Daten aufgeschreckt worden sind: 1955 sind mehr als zehn Prozent aller Transportunfälle in der Tschechoslowakei (1571 von 15.203) auf den Genuß von Alkohol zurückzuführen gewesen; in den Jahren 1951 bis 1954 ist die Zahl der Personen, die sich unter dem Einfluß von Alkohol straffällig gemacht haben, um 4 3 Prozent gestiegen; mit einem Konsum von 51,690.000 Liter alkoholischer Getränke im vergangenen Jahr, das sind fast vier Liter pro Kopf der Bevölkerung, steht die Tschechoslowakei gegenwärtig nur Schweden nach, läßt aber z. B. Belgien, Großbritannien, die Deutsche Bundesrepublik und die Niederlande hinter sich. In den Alkoholentwöhnungs- und Beratungsstellen der Tschechoslowakei wurden im letzten Jahr 40.Ö0O Personen registriert; der Alkoholreferent im Gesundheitsministerium schätzt aber die Zahl der Alkoholsüchtigen auf zumindest 120.000 — woraus im Leitartikel einer Prager Tageszeitung der Schluß gezogen wird, daß unter Zuzählung der Familienmitglieder zumindest zwei Prozent der tschechoslowakischen Bevölkerung durch die Folgen des Alkoholismus unmittelbar erfaßt oder bedroht sind,

Nun sucht man nach dem Sündenbock — und findet mehrere. Vor allem wird der Alkoholiker selbst angegriffen, indem man ihn gesellschaftlich diskreditiert — ein Mensch von höherer Kultur kaufe für das gleiche Geld, das der Alkoholiker dem Trunk opfert, Kleider und Bücher, einen Fernsehapparat oder einen Eisschrank. Die Statistik offenbart das „wenig kulturelle“ Bild, daß in der Tschechoslowakei für alkoholische Getränke dreieinhalbmal soviel Geld ausgelegt wird als für Bücher, Kino und Theater. Zweiter Sündenbock: mangelnde Freizeitobsorge für die Jugendlichen auf Arbeitsbrigaden. Solch eine Kritik ist gegenwärtig sehr populär: die jungen Idealisten würden in schlechten Baracken untergebracht, niemand kümmere sich um ihre kulturellen und sportlichen Bedürfnisse, sie verdienten relativ viel Geld und wüßten nicht, was sie in ihrer freien Zeit beginnen sollten, so daß sie zum Alkohol greifen. Sündenbock Nummer drei: das — staatliche — Geschäft mit dem Alkohol selbst! Es gebe allerdings eine Verordnung des Gesundheitsministeriums, alkoholische Geträi.ke sollten nicht in übertriebener Weise ausgegeben werden. Aber was heißt übertrieben? Bei der Untersuchung der Gründe kommt die Zeitung idovä demokracie“ sogar darauf, daß eine wesentliche Ursache des großen Alkoholkonsums der Tschechoslowakei auf das kommunistische PlanT und Arbeitsantriebssystem selbst zurückzuführen ist!

Sie sagt das natürlich nicht so brutal, aber immerhin “•'ird ausgeführt, daß die Werktätigen in der (staatlichen) Lebensmittelgeschäften am

Verkauf der alkoholischen Getränke dir.-kt materiell interessiert seien. Prämien würden nämlich entsprechend der Planerfüllung nach dem Umsatzbetrag zuerkannt, wie immer dieser Umsatz erzielt werde; durch den Verkauf alkoholischer Getränke wachse nun aber der Umsatz schneller als bei Fruchtsäften und Sirupen aller Art. Hier beißt sich die kommunistische Planschlange wieder einmal in den Schwanz. Wird es bei solcher Allgemeindisposition zugunsten des Alkoholverkaufs helfen, an das Ehrgefühl qualifizierter Kellner zu appellieren, sie mögen zu rechter Zeit eine anständige Mahlzeit, Kaffee und verschiedene Getränke anbieten, nicht aber schon am frühen Morgen einem Gast neun Gläser Rum eingießen?

Der Verkauf alkoholischer Getränke hat dem volksdemokratischen tschechoslowakischen Staat im Jahre 1955 3 Milliarden und 106 Millionen Kronen eingebracht; man nimmt an, daß die aus der gleichen Staatskasse zu liquidierenden Schäden, die durch den Alkoholismus im Land hervorgerufen werden, zumindest ebenso hoch anzusetzen sind.

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